Angst – Stefan Zweig

Schon seit längerer Zeit habe ich keine Erzählung mehr gelesen. Die Novelle «Angst» von Stefan Zweig (17. Auflauge, 12/2013) zeigt auf sehr anschauliche Weise, ja mit kräftig metaphorischer Sprache und psychologischem Feingefühl zwei allzu menschliche Themen und Dilemmata.

Zweig 1910 Angst

Das erste Dilemma besteht im Gegenüberstehen eines lauen, bürgerlichen, relativ sorgenfreien Lebens mit dem begleitenden Gefühl, am wirklichen Leben nicht Teil zu haben, und dem Wunsch nach Abenteuer, nach Ausbruch vermischt mit der oft ebenso starken Angst, diesem Wunsch zu folgen, bzw. vor den möglichen Konsequenzen, die mit der Umsetzung des Wunsches verknüpft sein könnten. Aber selbst das Abenteuer mit ihrem heimlich Geliebten webt Irene so in ihr Leben ein, dass es nach der Verflüchtigung des anfänglichen Zaubers nur mehr eine Erweiterung des bisherigen bürgerlichen Lebens ist, oder anders gesagt, dasselbe in neuem Gewand. Der Autor stellt die Diagnose, wobei er den Leser im Unklaren lässt, ob dies auch Irene selbst bewusst war…

Überall griff sie ins Weiche, überall war Vorsorglichkeit, Zärtlichkeit, laue Liebe und häusliche Achtung hingebreitet, und ohne es zu ahnen, dass diese Gemässigtheit der Existenz niemals von äusseren Dingen bemessen wird, sondern immer nur Widerspiel einer inneren Beziehungslosigkeit ist, fühlte sie sich irgendwie um das wirkliche Leben durch diese Behaglichkeit betrogen. (S. 21)

Die Beziehungslosigkeit wurde Irene besonders schmerzlich klar, als sie zunehmend befürchten musste, dass sie das bisherige Leben, an dem sie gar nicht richtig teilgenommen hatte, verlieren würde. Gerade wenn wir uns bewusst werden, dass nichts für immer ist, dass wir alles jederzeit verlieren können, zeigen sich die Menschen, die Dinge, die Tätigkeiten in einem ganz neuen, ganz wirklichen und bedeutenden Bild. Daraus entstand bei Irene zunehmend das Bedürfnis, ihr bisheriges Leben sich zu eigen zu machen … doch «Überall wo sie helfen wollte, störte sie eine Ordnung, und wo sie Anteil nahm, erweckte sie Verdacht.» (S. 43).

Als Irene in ihrer Verzweiflung, in ihrer Angst, in der potentiellen Schicksalhaftigkeit des Moments ihren Ehemann betrachtete, passierte in ihr plötzlich etwas: «Mit einem Male spürte sie, dass sie ihn gerne ansah, mit Lust und mit Stolz.» (S. 40) Er wurde plötzlich ihr Gegenüber, ein Du, es entstand Beziehung, Begegnung, Ich-Du-Welt.

Ihr war, als hätte sie nur mit dämmrigem Gefühl, halb verschlossenen Blicks bisher durch ihr Leben getastet, und nun strahlte mit einem Male alles, von innen in einer furchtbar schönen Klarheit. Ganz vor ihr, atemnah, standen Dinge, an die sie nie gerührt hatte und von denen sie mit einem Male begriff, dass sie ihr wahrhaftes Leben bedeuteten, und anderes wieder, was ihr wichtig geschienen, schwand hin wie Rauch. (S. 68)

Langsam bildete sich ihr Leben zu einem neuen Sinn um, alles gewann Beziehungen und wandte ihr plötzlich ein ernst-bedeutsames Antlitz zu. (S. 69)

Wohin sie sah, wohin sie horchte, war plötzlich Wirklichkeit. (S. 69)

Alles sagte »ich« zu ihr, der Lebensmüde, der Verzweifelte, das verführte Dienstmädchen und das verlassene Kind, alles war wie ihr eigenes Schicksal. Mit einem Male spürte sie den ganzen Reichtum des Lebens und wusste, dass nie eine Stunde in ihrem Schicksal mehr arm sein könnte und jetzt, da sich alles zu Ende neigte, spürte sie erst einen Anbeginn. (S. 70)

Noch kaum an einem Ort habe ich diesen Eintritt, dieses In-Beziehung-Treten mit der Wirklichkeit, mit dem Augenblick und mit dem, was dieser von uns fordert, so schön ausgedrückt gesehen!

Das zweite Dilemma ist das Hin- und Hergerissensein zwischen dem quälenden Schuldgefühl, der verzweifelten Angst vor dem Auffliegen einer Lüge, eines Betrugs und dem Wunsch, alles zu gestehen, um diese Verzweiflung ablegen zu können, um letztlich mit dem Gegenüber wieder in Beziehung treten zu können, um sich damit auch dem anderen anzuvertrauen, auszuliefern, je nachdem, wie sich das Gegenüber entscheidet: Beziehungsabbruch, Rache, Vergebung.

Irene möchte lieber in den Tod, als ihrem Mann gegenüber zu treten. Dennoch endet die Erzählung auf berührende Weise und zeigt auf tiefe und ergreifende Weise, was Lieben heisst.

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Stefan Zweig selbst wählte den Suizid, wohl aus anderen Gründen; er habe zeitlebens unter depressiven Episoden gelitten. Ich glaube kaum, dass einer so tief über diese Gefühle und menschlichen Dilemmata schreiben kann, ohne sie selbst sehr genau gekannt zu haben. Die Fotos von ihm und seiner Partnern, die sich gleichzeitig suizidierte und ihn umarmte, wirken auf mich trotz der Tragik sehr berührend.