Hermann Hesse – Kinderseele (1920)

Gestern ist mir wieder einmal die Erzählung «Kinderseele» von Hermann Hesse begegnet (in «Die schönsten Erzählungen», 2004, Suhrkamp-Verlag). Der Text ist aufgrund seines Alters frei verfügbar im Rahmen des Project Gutenberg. Von dort habe ich auch den Text herauskopiert, den ich hier zur Verfügung stelle: Hermann Hesse 1920 Kinderseele.

Das Existenzielle des Menschseins ist kaum an je einem anderen mir bekannten Ort so schön, so direkt und mit solcher Ehrlichkeit angesprochen. Ich nehme ein paar Stellen heraus, die mich besonders berührten:

Damals in der finstern abendlichen Flur und im Treppenhaus, dessen viele Stufen ich unter Mühen erklomm, atmete ich, wie ich glaube, zum erstenmal in meinem Leben für Augenblicke den kalten Äther, die Einsamkeit, das Schicksal. Ich sah keinen Ausweg, ich hatte keine Pläne, auch keine Angst, nichts als das kalte, rauhe Gefühl: »Es muß sein.« (S. 368, in der og. Suhrkamp-Ausgabe)

Überall Reste von einstmals, überall Spiegel, aus denen mir ein andrer entgegensah, als der ich heute war! War ich das alles gewesen? So lustig, so zufrieden, so dankbar, so kameradschaftlich, so zärtlich mit der Mutter, so ohne Angst, so unbegreiflich glücklich? War das ich gewesen? (S. 393, a.a.O.)

Alle diese Gefühle waren damals im Herzen des Kindes schon dieselben, wie sie es immer blieben: Zweifel am eigenen Wert, Schwanken zwischen Selbstüberschätzung und Mutlosigkeit, zwischen weltverachtender Idealität und gewöhnlicher Sinneslust – und wie damals, so sah ich auch hundertmal später noch in diesen Zügen meines Wesens bald verächtliche Krankheit, bald Auszeichnung, habe zu Zeiten den Glauben, daß mich Gott auf diesem qualvollen Wege zu besonderer Vereinsamung und Vertiefung führen wolle, und finde zu andern Zeiten wieder in alledem nichts als die Zeichen einer schäbigen Charakterschwäche, einer Neurose, wie Tausende sie mühsam durchs Leben schleppen. (S. 383, a.a.O.)

Warum mußte man, was man gar nicht wollte? (S. 389, a.a.O.)