Wilhelm Schmid – Schönes Leben?

«Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst» ist das dritte Buch, das ich von Wilhelm Schmid gelesen habe. Das Buch enthält wenig konkretes (vielleicht darf man das von einem philosophischen Buch auch nicht erwarten) und schwankt hin und her so wie: einerseits …, jedoch andererseits … Dennoch gab es für mich in ihm einige Schätze, für die sich das Lesen der rund 200 Seiten auch gelohnt hat.

Ein Schatz ist die Idee der essayistischen Lebensweise, über die ich schon in einem anderen Artikel ausführlicher nachdachte. Letztlich ist es ein Imperativ, neue Dinge auszuprobieren, neue Erfahrungen zu machen oder offen zu sein für neue Erfahrungen, die durch den Zufall angeschwemmt werden, sich also auch dem Zufall zu überlassen. «Montaigne und Nietzsche […] üben sich in der Akzeptanz der Kontingenz und machen dies zum Bestandteil der essayistischen, experimentellen Existenz.» (S. 91) «Die Wahl, die angesichts des Zufalls in jedem Fall besteht, ist die der Haltung, die das Selbst dazu einnimmt.» (S. 92)

Die Aufforderung, sich bewusst um sein Leben zu bemühen, wird auf der ersten Seite des Buches sehr schön ausgedrückt:

Gleichwohl wird dieses Leben zu unserem eigenen – spätestens am letzten Tag. Nur wir selbst werden es zu Ende bringen, wer oder was auch immer es bestimmt haben mag. Wir allein sind – vor uns selbst – für dieses Leben verantwortlich, niemand sonst wird, schon gar am ultimativen Punkt, diese Verantwortung übernehmen. Lebenskunst ist die Ernsthaftigkeit des Versuchs, aus diesem Grund sich das Leben beizeiten selbst anzueignen und vielleicht sogar ein «schönes Leben» daraus zu machen.

Inhalt

Die Glücksfalle

Schmid zeigt auf, dass unsere heutige Gesellschaft, zumindest im Westen, den Traum vom universellen Glück verwirklichen möchte. Das Leid ist unerwünscht, es ist pathologisch. Paradoxerweise ist es aber gerade die Vermeidung von Leid, im Rahmen der Akzeptanz- und Commitment Therapie (ACT) als «experiential avoidance» bezeichnet, die zusätzlich zum Leid, welches das Leben intrinsisch mit sich bringt, neues Leid erzeugt: Beispielsweise der sozial ängstliche, der soziale Interaktionen vermeidet und damit unter seiner Isolation zu leiden beginnt. Schmid äussert sich dazu so:

Die Menschen […] haben es vorgezogen, allen Widersprüchlichen aus dem Weg zu gehen, allem Negativen, allen Schwierigkeiten des Lebens den Zutritt zu ihren Räumen zu verweigern. Nun aber sind sie dem Leben selbst aus dem Weg gegangen und spüren es nicht mehr. (S. 20)

Schmid attestiert der aktuellen westlichen Gesellschaft eine «Art Zwang zum Glücklichsein. Die unvermeidliche Ironie des Schicksals fügt es freilich, dass das Selbst im selben Masse, wie es positiv denkt, das Negative auf sich zieht.» (S. 112) An etwas nicht zu denken, führt eben gerade dazu, an gerade dies immer wieder denken zu müssen: Der Versuch, eine Minute nicht an einen rosaroten Elefanten zu denken, zeigt dieses Phänomen eindrücklich. Schmid versucht es mit der Umkehr dieses Effekts und propagiert das Negativdenken. Dieses bedeute, vom schlechtesten Fall auszugehen, um nicht enttäuscht, bzw. nur positiv enttäuscht zu werden. Diese Strategie, wenn sie denn wörtlich übernommen wird, kann leicht ins Dysfunktionale gehen. Das katastrophisierende Denken oder das ängstlich-sorgenvolle Grübeln, zum Beispiel, sind zentrale Mechanismen bei Angstkrankheiten oder Depressionen. Schmid präzisiert, bzw. relativiert ein paar Seiten später: «Das Negativdenken bewahrt demgegenüber die Fähigkeit zur Kritik, wie es für eine reflektierte Lebenskunst unabdingbar ist, […]» Kritisieren können, braucht Abstand. Distanzierung ist auch hier das entscheidende Element. Wie das Verfolgen des Glücks uns geradezu ins Unglück stürzt zeigt Russ Harris in seinem viel beachteten Buch «The Happiness Trap». In diesem zeigt er auch Ideen auf, aus dem Fundus von ACT, um eben nicht ein möglichst glückliches, sondern ein möglichst sinnvolles Leben zu führen.

Tod und Erotik

Ausserdem ist es «die Grenze des Todes, der die Freude am Leben zu verdanken ist. Philosophieren heisst, im Bewusstsein dieser Grenze leben zu lernen.» (S. 28) «Der Tod als Grenze des Lebens fordert sie auf zu leben und auf erfüllte Weise zu leben.» (S. 28) Wie kann es hilfreich sein, den Tod zu sehen, der doch hinter allem Steckt? Das Bewusstsein des Todes ist ein Imperativ und zwar in dem Sinne: «Den Tod als Grenze zu akzeptieren, sich vertraut zu machen mit ihm, bedeutet vor allem, frei zu werden für das Leben und es auf diejenige Weise zu leben, die den Tod leicht machen kann.» (S. 70) Dazu kommt mir auch ein Zitat in den Sinn, das mich im Film «Tuck Everlasting», den ich vor mehr als zehn Jahren in den Staaten gesehen habe, tief berührte: «Don’t be afraid of death; be afraid of an unlived life.» «Die Lebenskunst geht mit der Kunst des Sterbens einher.» (S. 71) Oder in «Dienstags bei Morrie», S. 99: «Die Wahrheit ist, […] wenn du lernst, wie man stirbt, dann lernst du, wie man lebt.» Wie das Leben so ausgerichtet werden kann, beschreibt Schmid hier:

Mit dem Blick des Sterbenden von nun an das Leben zu sehen, das eigene Leben zu prüfen und vielleicht zu verändern: die Übernahme dieser Perspektive macht den «letzten Tag» das ganze Leben hindurch zum Prüfstein für alle Akte des Lebens, um stets so zu handeln, dass die Maxime und das Resultat des Handelns von diesem ultimativen Blick Bestand haben können. Es ist der äusserste Punkt der Parrhesia, der Augenblick der Wahrheit, der kein Ausweichen mehr erlaubt, keine Maske, keine Täuschung […] (S. 72)

Ein sinnvolles Leben besteht darin, dem Leben einen Sinn zu geben, handelnd, deutend. Dieser Sinn ist nicht einfach da, obschon es viele Sinnangebote in den Religionen und auch an vielen anderen Orten gibt. Gemäss der existenziellen Auffassung gibt es keinen uns bekannten, von aussen gegebenen Sinn. Dem Leben Sinn geben, ist ein kreativer, iterativer Prozess. Diesen Prozess aktiv zu gestalten, darum geht es. «Aber was ist eigentlich gemeint mit ‹Sinn›?: Sinn, das ist Zusammenhang. Die Arbeit des Deutens und Interpretierens knüpft Zusammenhänge, mögen sie von selbst schon bestehen oder nicht.» (S. 182)

«Die Fülle des Lebens umfasst den Widerspruch von Lust und Schmerz.» (S. 55) Der Schmerz so Schmid führt zur grössten Intimität des Selbst mit sich selbst und zwingt uns, gegenüber uns Selbst fürsorglich zu sein. Gerade auch darin könnte der Sinn der Krankheit allgemein verstanden werden. «Führt eine Krankheit zum Tod, so gilt es sich vor Augen zu halten, mahnt Montaigne, dass man nicht stirbt, weil man krank ist – man stirbt vielmehr, weil man lebt: Das ist die Bedingung, unter der das Leben einst angetreten worden ist.» (S. 64)

Um eben das Leben selbst in die Hand nehmen zu können, weil bei einem Warten auf das Leben, das Leben niemals kommt, braucht es unausgefüllte Zeit, Musse. Auch die Lust bis hin zur Aufhebung des selbst, damit es sich danach neu zusammensetzen kann, ist ein weiteres Hilfsmittel und damit Bestandteil der Lebenskunst (siehe S. 45 ff.). Schmid äussert sogar: «Alles gewinnt Sinn durch die Erotik, sie ist der umfassende Reichtum und der grundlegende Reiz, der die Rettung des Lebens bedeutet, auch wenn sonst nichts mehr von Bedeutung ist.» (S. 51) Dem gegenüber steht jedoch auch «[…] eine neue Zeit der Askese […], nicht nur im Sinne einer frei gewählten Enthaltsamkeit, sondern im Sinne eines Verzichts darauf, sämtliche Möglichkeiten beliebiger Beziehung auch zu realisieren, stattdessen einzelne Beziehungen auszuwählen, denen die hingebungsvolle Aufmerksamkeit gewidmet wird, derer das Selbst fähig ist.» (S. 53)

Selbstgestaltung und Selbstbewusstsein

Des weiteren ist die Selbstverständnis und Selbstgestaltung eine wichtige Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Beides wächst auch in der Auseinandersetzung mit anderen. Selbstsorge, bzw. Selbstgestaltung ist ebenso die Sorge um andere, die Gestaltung von Beziehungen zu anderen (siehe S. 31).

«Von initialer Bedeutung für die Gesundheit als Lebenskunst ist daher die Sorge des Selbst um sich. […] Damit kommt der gesamte Bewusstwerdungsprozess in Gang, der zum aufgeklärten Eigeninteresse und zur aktiven, vom Selbst initiierten, klugen Sorge führt, in der das Selbstbewusstsein und die Selbstgestaltung eng miteinander verzahnt sind.» (S. 156 f.) Gegenüber sich selbst und gegenüber anderen liebend tätig zu werden, schliesst sich nicht gegenseitig aus, sondern bedingt sich gegenseitig. «Der Körper sollte, in  bester platonischer Tradition, als Wohnung der Seele gepflegt werden.» (S. 159) Auch wichtig ist die Kunst der Berührung; sich selbst berühren, andere berühren, einander berühren.

Distanzierung zur Gestaltung der Gewohnheiten

Zur Lebenskunst gehört nach Schmid auch der Umgang mit Gewohnheiten. Es wird zwischen vier Arten von Gewohnheiten unterschieden: heteronome, autonome, existenzielle und funktionale Gewohnheiten. Gerade bei der existenziellen Gewohnheit geht es um die Gestaltung der eigenen Person: «Ein Anliegen der reflektierten Lebenskunst ist daher zwangsläufig, Gewohnheiten nicht nur zu wählen und zu verändern, sondern sie bewusst auch bestehen und gewähren zu lassen.» (S. 39) Bei selbst gewählten Gewohnheiten wird dann die Macht der Gewohnheit zur Selbstmächtigkeit. Gewohnheiten (man könnte auch den Begriff «Verhaltensmuster» verwenden) sind oft nicht bewusst, sondern «passieren» automatisch ganz im Sinne der klassischen Konditionierung. Die Bewusstwerdung von Gewohnheiten und dann der bewusste Entscheid, sie zu verändern oder eben beizubehalten, ist eine Arbeit an sich selbst, und damit eine gestalterische Arbeit am Leben. Damit verknüpft ist ein Dilemma: «Die Gewöhnung ermöglicht eine gelassene Lebensführung, bringt jedoch immer auch eine Abstumpfung mit sich.» (S. 42) Achtsamkeit ist eine Möglichkeit mit diesem Dilemma umzugehen.

Für die Lebenskunst ist, so Schmid, auch der Umgang mit unangenehmen Affekten ein wichtiges Thema. «Sich nicht beliebig zum Zorn verleiten zu lassen, sondern selbst darüber zu befinden, ob ihm nachzugeben sei oder nicht, […]» (S. 97) Gerade das ist auch ein wichtiges Credo von ACT: Unsere Gedanken und Gefühle müssen nicht unser Handeln bestimmen, auch wenn sie dies im Rahmen der Automatismen auf dem Hintergrund der klassischen Konditionierung oft tun. Um eben diesen Handlungsspielraum zurück zu gewinnen, braucht es so etwas wie ein innerer Beobachter der Gedanken und Gefühle als Ereignisse wahrnimmt, d.h. Ereignisse losgelöst vom Kern der Person, des beobachtenden Selbsts. Die Techniken dazu werden unter den Begriffen Defusion und Achtsamkeit zusammengefasst.

Eine weitere Technik wird dann im nächsten Kapitel bei Schmid erwähnt, nämlich die Ironie als eine «Kunst der Distanz» (S. 104). Natürlich gehört auch der Humor zu den Distanzierungsmechanismen. «‹Das Ironische löst so die Enge eines gebannten Hinblicks, der wohl schon keinen Ausweg mehr sieht, in der Weite eines Spielraums, in welchem sich atmen lässt› (Beda Allemann)» (S. 105) In diesem Zusammenhang auch die Ironie des Schicksals: «So wird zusammengeführt, was nicht zusammengehört, um den Individuen ungefragt vorzuführen, dass Widersprüche lebbar sind.» (S. 109) «Die Ironie kann das Katastrophalste sein, das Menschen zu erleiden haben, jedoch auch das Köstlichste, das ihnen zu geniessen erlaubt ist – sofern sie sich einen Sinn dafür bewahren, dass nicht sie allein das Leben gestalten, sondern dass dies auch die ‹die Dinge› tun, und zwar auf eine Weise, die zuweilen boshaft und destruktiv, oft aber intelligent und planvoll erscheint.» (S. 109)

Die Haltung der Achtsamkeit und Heiterkeit

Wichtig bei der Lebenskunst ist die innere Haltung, besonders da, wo wir nichts mehr tun können. So wird auf Seite 172 Frankl zitiert: In den Konzentrationslagern wurde den Menschen alles genommen, nur nicht, da sie nicht genommen werden kann, «die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen.» Eine mögliche Haltung ist laut Schmid die Heiterkeit.

Im Zen Buddhismus wird allen, auch den alltäglichen Tätigkeiten vollste Aufmerksamkeit, bzw. Achtsamkeit entgegen gebracht. Es gibt in diesem Sinne gar keine wichtigen und unwichtigen Tätigkeiten. Das, was ich im Moment tue, ist das wichtigste. Diese Idee wird von Schmid ebenfalls aufgegriffen: «Schon die exzellente Ausübung banaler alltäglicher Tätigkeiten kann eine beglückende Erfahrung vermitteln. Wichtig ist diese Arbeit am Glück, die Einsicht, dass man für dieses Glück etwas tun muss, seelisch, alltäglich, ein Leben lang.» (S. 176)