Die schwarzhaarige Rita

Markus öffnet die Augen. Der Kopf brummt noch vom Vorabend. Grelles Licht peitscht ihm durch die Augenlinsen auf die Netzhaut, ein stechender Schmerz, der sich zusammen mit einem ausgewachsenen Vertigo zu einem unaushaltbaren Inferno verbündet. Reflexartig schliessen sich seine Augenlider wieder und es erscheinen bruchstückhafte Bilder vom gestrigen Abend. Die schwarzhaarige Rita, wie sie da mit ihrem weissen Sommerkleid steht. Rita, wie sie ihn anlächelt und ihn beim Vorbeigehen, als er auf der Festbank neben seinen Arbeitskollegen sitzt, scheinbar unbeabsichtigt mit ihrer Hüfte streift. Rita, wie sie durch einen anderen zum Tanz aufgeboten wird. Rita, wie sie mit diesem anderen davonzieht.

Traurigkeit mischt sich in sein benebeltes Bewusstsein. Er steht auf, tastet sich gangunsicher zur Küche fort, stellt die Espresso-Maschine ein und während er darauf wartet, dass diese mit dem Vorheizen des Wassers fertig ist, trinkt er einen gefühlten Liter Wasser direkt aus dem Wasserhahn. Nach dem er den Espresso am runden, weissen Kunstmarmortisch in der Küche mit Blick auf das gegenüberliegende Wohnsilo fertiggetrunken hat, macht sich der gegen die Übelkeit wirkende Effekt des Koffeins bemerkbar. Dazu noch etwas salziger Aufschnitt, nochmals Wasser. Bald geht es ihm etwas besser.

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Der Tanzabend

Nachdem ich zwei Jahre lang in eine katholische Knabenschule gegangen war, in welchem eine gute Note in der Schule mein grösstes Glück war, bestand ich die Aufnahmeprüfung an das kantonale Gymnasium. Berührungen mit dem anderen Geschlecht gab es seit der Primarschule kaum mehr.

Eine Ausnahme bildete ein Tanzabend, den unsere Klasse der Knabenschule mit einer Klasse der gleichnamigen Mädchenschule veranstaltet hatte, weil die Summe aller unserer Alter genau 700 ergab, was äusserst gut zum 700-jährigen Jubiläum der schweizerischen Eidgenossenschaft passte. Ich gehörte zu der Gruppe von Buben, die vorgaben, nichts mit Mädchen zu tun haben zu müssen, wir waren stolz, dass wir über dem Geschlechtstrieb anderer gleichaltriger standen. In meinem Innern flammte aber fast immer Liebe für irgendein Mädchen. Weil es aber während dieser zwei Jahren kaum Gelegenheiten gab, ausser vielleicht noch im Skilager, wo ich lieber mit ein paar anderen Jungen den ganzen Abend Karten gespielt habe, anstatt an den Abschlussabend des Skilagers zu gehen, weil ich davor Angst hatte, Angst, ich könnte mich verlieben oder noch schlimmer, dass sich ein Mädchen in mich verlieben könnte. Dieser Tanzabend mit der anderen Klasse war also dann die einzige Gelegenheit.

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Abendspaziergang

Etwa um halbsechs verliess ich das kleine Apartment des International House, in welchem ich nun seit eineinhalb Jahren wohne. Wenn immer ich herunterschreite, um das Haus zu verlassen, benütze ich das Treppenhaus, das in amerikanischen Bauten lediglich als Feuertreppe dient, aus Beton, grau in grau. Als ich mich vor dem Haupteingang befand, sah ich, wie tief die Sonne schon stand, sie war aber immer noch kräftig und der Himmel wolkenlos. Ich fühlte mich seltsam aufgewühlt, ja in erwartender Vorahnung, mit Hoffnung vermischt. Das sind die Tage, an denen sich alles wendet, nicht nur im Gefühl, sondern auch in der Tatsächlichkeit. Eine seltsame Unmittelbarkeit verband mich mit der Welt.

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Mein Herz schlägt nicht mehr

Es ist Sonntag. Während ich die Kaffeetasse zu meinem Mund führe und vorsichtig mich mit der Lippe zur heissen, schwarzen Flüssigkeit vortaste, habe ich plötzlich das Gefühl, mein Herz habe aufgehört zu schlagen. Ich suche verzweifelt mit meinem inneren Auge den ganzen Körper ab, von den Fingerspitzen zur Schulter, zum Herzen und dann an der Aorta entlang hinunter zu den Zehen, um ein Indiz zu finden, dass mein Herz noch schlägt. Nichts. Keinen Puls, den ich spüren könnte. Ich sitze vor dem Computer, starre auf ein leeres Textdokument, das ich gerade offen habe, und ich muss feststellen: Bei Bewusstsein bin ich noch, denn sonst würde ich das nicht mehr sehen. Wohl schlägt das Herz noch, ich spüre einfach im Moment keinen Puls…

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Weltenschicksal

Es ist ein lauer Abend, nach dem ersten, warmen Tag einer Schlechtwetterperiode. Der Verkehr auf der Strasse vor dem Haus ist spärlicher geworden – hin und wieder durchbricht das brausende Getöse eines Motorrades die Stille der Nacht. Nicht dass es ganz still wäre, nein, den Herzschlag der Stadt und das ununterbrochene, leise und zärtliche Rauschen ihres Blutes umhüllen die Nacht. Es ist heute das erste Mal, dass ich auf dem Balkon gelesen und einen taiwanesischen Tee zu mir genommen habe. Ich schloss eine der Zimmerlampen einem Verlängerungskabel an, so dass sie mir auf dem Balkon für das Lesen Licht spenden konnte. Immer wieder, nach dem ich einige Abschnitte gelesen hatte, löschte ich das Licht aus und lies meinen Blick über die nächtlich beleuchteten Hausdächer gleiten, bis er seine Aufmerksamkeit ganz dem Sichelmond zugewendet hat, welcher, wegen dem nebligen Dunst, der sich über der Stadt ausgebreitet hatte, einen milchigen Schleier um sich hatte.

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Ein Kurzgeschichten-Experiment

Eine Kurzgeschichte soll ich schreiben? Wer hat mir denn das eingebrockt? Meine innere Stimme. Nicht ganz, denn diese hätte gerne eine lange Geschichte geschrieben, doch das hab’ ich nicht drauf, noch nicht. Und überhaupt: Eine Kurzgeschichte könnte ja auch plötzlich vom geplanten Schluss abweichen und ganz lange werden. Mal sehen.

Das schöne am Schreiben ist, dass ich die Welt so erschaffen kann, wie ich sie gerne hätte, bzw. im Idealfall so, dass sie den Lesern Wirklichkeit, Lebensweisheit vermittelt. Doch leider habe ich diese Weisheit nicht und so erschaffe ich mal diese Welt, wie ich sie gerne hätte.

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