«Essayistische Lebensweise»

«Essayistische Lebensweise» ist ein Ausdruck, der mir erstmals bei Wilhelm Schmid, Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst, Suhrkamp, 2005, auf Seite 33 begegnet ist. Endlich war da ein Wort für eine Idee, die ich schon lange hatte. Anstatt um das Beschreiben und Argumentieren, also um ein Abhandeln in Gedanken wie in einem schriftlichen Essay geht es bei der essayistischen Lebensführung um ein Handeln im Sinne eines Experimentierens, eines Versuchens. Das Leben als Versuch: einerseits der vorsätzliche Versuch, das geplante Experiment, andererseits das Versuchenlassen, das Mitgehen mit dem Zufall (siehe auch hier).

Gestern, als ich den Bus 660 von Winterthur nach Nürensdorf nahm, wartete eine junge Frau neben mir mit einem Cello oder so. Wir schauten uns mehrmals etwas länger an. Als sie später aussteigen wollte, hatte sie den Halteknopf noch nicht gedrückt und stellte das Cello hin, um ihn zu drücken. Ich drückte dann für sie, ohne dass sie dies bemerkte. Als sie ausgestiegen war, schaute sie zu mir hinein. Das waren ein paar schöne Momente. Gerade könnte ich meine Träume da hineinprojizieren, intensive Gefühle entwickeln. Als sie sich daran machte aufzustehen, bevor sie ausstieg, liess ich meine Gefühle absichtlich zu, auch das Herzklopfen … «essayistische Lebensweise», dachte ich mir … schaute sie an …

Wie viel mehr Erfahrungsmöglichkeiten gibt es durch diese Art der Lebensführung, schmerzhafte, aber auch schöne Erfahrungen, in jedem Fall jedoch lebendige Erfahrungen!

Immer haben mich Menschen beeindruckt, die etwas versucht haben, die abgeleitet von eigenen Erfahrungen Schlüsse zogen, Verallgemeinerungen machten. Wenn jemand eine Aussage mit «aus meiner Erfahrung würde ich sagen, dass» begann, dann war ich immer ganz Ohr. Über lange Zeit hatte mich vor allem das Abstrakte, Generelle interessiert. In den letzten Jahren nur noch das Konkrete, das Einzigartige, die eigene Erfahrung, das eigene Erleben, die eigene Begegnung…