Liebe und andere Kleinigkeiten… :-) (06.05.2003)

Im Folgenden ein e-Mail, das ich vor zehn Jahren an einen Freund geschrieben habe. Den Inhalt finde ich nach wie vor interessant und für mich selbst auch gültig:

Nun melde ich mich endlich, nach langer Zeit. Die letzten zwei Wochen waren die Hölle, nicht nur wegen dem Schulstress, sondern auch wegen meiner Seele. Ja, ich erlebte seelische Umnachtung. Ich verstrickte mich in Fragen nach dem freien Willen, der Kausalität und der gleichen. Zeitweise habe ich dann in solch dünner intellektueller Luft gelebt, dass ich fast daran erstickt wäre. Ich sende dir zwei Fachzeitschriftartikel, die mich besonders besorgt haben. Wegner ist einer der grossen Verfechter, dass unser freie Wille nur eine Illusion ist, ein guter und nützlicher Trick unseres Nervensystems. Nahmias schrieb eine Antwort auf das Buch, das Wegner verfasst hat (was vermutlich nicht viel anderes enthält als den Artikel, den ich der angehängt habe). Ich fand noch zahlreiche andere solcher Artikel und es wird spekuliert, dass wir, nachdem wir nicht mehr das Zentrum des Universums sind, nicht mehr Krone der Schöpfung sind und zum grossen Teil von einem Unterbewusstsein beeinflusst werden, nun auch noch unseren freien Willen verlieren sollen.

Zwei Dinge möchte ich vorausschicken: Die Quantenmechanik postuliert keine zwingende Kausalität und Kontinuität der Welt mehr, doch das heisst erst, dass ein freier Wille möglich wäre, aber nicht unbedingt existieren muss. Ich glaube, was das anbelangt, scheinen die Herren Wegner und Nahmias noch etwas Nachhilfe in Physik nötig zu haben.

Das zweite ist, dass wir Menschen gemeinhin eine falsche Vorstellung von einem freien Willen haben. Tatsächlich werden wir von vielem beeinflusst und bedingt: Gibt es da nicht den schönen Term conditio humana? Ja, wir “wollen” Sex, doch Sex ist nur so wichtig, weil wir Menschen sind, weil wir durch das Dopamine-System im Gehirn Belohnung für unser Verhalten erhalten. Wir “wollen” einen Akademischen Abschluss, doch im Grunde fühlen wir uns dazu gedrängt, wir wollen Lob erreichen. Vor allem, wenn ich meine eigene akademische “Karriere” ansehe, ist da nicht viel Wille und daher auch nicht viel freier Wille drin. Bin so in die HSG reingerutscht. Nun der Schritt in die Psychologie scheint mir schon eher ein Wille gewesen zu sein. Doch noch viel mehr war es wohl eine innere Notwendigkeit. Ist innere Notwendigkeit freier Wille? Vieles in unserem Leben sind solche innere Notwendigkeiten, äussere Bedingtheiten, usw. Wo ist da noch die Freiheit? Ich glaube, Willensfreiheit wie es sich viele Menschen vorstellen ist wirklich eine Illusion.

Es muss auch gesagt werden, dass die Position der zwei Artikel wissenschaftlich, objektiv und logisch sein will. Das Leben ist jedoch eben einzigartig, subjektiv und unsere Erfahrung, unsere Begegnung an sich kann nicht beschrieben werden. Wenn man das Leben beschreibt, lebt man nicht mehr im eigentlichen Sinne. Es schliesst sich gegenseitig aus Leben und Beschreibung desselben. Daher sind diese Wissenschaftler bedauerlich, da sie keine Ahnung haben von der wundervollen Kraft der Seele, die zwar vielleicht nicht ein freier Wille ist, aber unsere innere Notwendigkeit ausdrückt, unsere göttliche Funken. Ja, wir selbst sind es. Diese zwei Welten, die der Wissenschaft und die des Lebens sind genau die zwei Welten, die Buber als Ich-Es und Ich-Du bezeichnet hat. Durch diese Erfahrung ist mir auch bewusst worden, dass letztlich alle Wissenschaft nur ein Modell, eine unbeholfene Beschreibung der Wirklichkeit ist. Das Modell wird nie Wirklichkeit hervorrufen können, es kann aber die Wirklichkeit auch nicht zerstören, ausser wenn man an das Modell glaubt, als SEI es die Wirklichkeit, wie es viele Wissenschaftler und sog. rational denkende tun. Im folgenden Beispiel wird dieser Zusammenhang besonders klar: Vermutlich gibt es einen sehr gut umschriebenen Nervenzellenschaltkreis mit entsprechenden Neurotransmitter, mathematischen Formeln usw. des Orgasmus, doch dieses Wissen ist im Gegensatz zu einem wirklichen Orgasmus gerade zu trocken, ja ein Knochen ohne Fleisch, oder so wie es Marc Aurel gesagt hätte: eine Feige ohne den Saft. Es ist auch als ob man die Formel des freien Falls mit dem Sprung von einem Sprungbrett im Hallenbad vergleichen würde. Die Formel ist immer gleich, allgemein, zeitlos, raumlos, abstrakt. Doch jeder Sprung vom Sprungbrett, jedes tatsächliche Erleben dieses “Gesetzes” ist immer wieder neu und frisch. Weil unser Denken und Leben immer mehr auf Formeln reduziert wird, wird es auch immer langweiliger. Ein Baum kann kaum noch jemand begeistern. Man klassifiziert ihn als Baum und das Wort Baum hat man gesehen, ja es ist out. Doch jeder wirkliche Baum ist wieder neu und frisch, doch die Menschen sehen ihn nicht. Sie suchen sich lieber neue Reize wo sie noch kein Schublädchen dafür haben

Interessanterweise hat gerade diese Erfahrung in mir wieder Staunen für das Leben und ein tiefer Glaube ins göttliche unserer Welt geschenkt. Kausalität ist ein Modell. Der Zustand der Welt am Zeitpunkt t1 könnte auch von Gottes Hand in den Zustand im Zeitpunkt t2 verwandelt werden, ja sie MUSS die Ursache sein, denn die Kausalität ist lediglich, was wir beobachten und als Gesetz ableiten, doch was tatsächlich passiert ist nicht Kausalität, sowenig wie Actio-Reactio geschieht, wenn du ein Mädchen küsst. Wir sehen dann eine kontinuierliche Bewegung, formulieren ein Gesetz der Kausalität und der Bewegung, doch dabei vergessen wir Gottes Hand (die jenseits dieser Gesetze ist; ja man könnte sagen, dass das göttliche die Ursache der beobachteten Kausalität ist) Die Frage nach dem freien Willen kann ich auf wissenschaftliche Weise nicht beantworten, auch nicht in einer philosophischen Weise. Ich kann nur ins Leben eintauchen in die Wirklichkeit. Mag man es Kausalität nennen, mag man es als gleichförmige Bewegung beschreiben oder als elektrisches Feld. Es ist mir einerlei. Ich glaube nur daran (und da wird wieder einmal klar, wie wichtig Glaube, Liebe und Hoffnung sind), dass wir zwischen gut und böse, zwischen wirklichem Leben und lebendigem Tod entscheiden können, dass wir entscheiden können, ob wir in Formeln oder in der Wirklichkeit Leben wollen. Zudem glaube ich auch (und daher rührt es wohl, dass gesagt wurde, dass Glaube Berge versetzen kann), dass je nachdem, was wir glauben, unsere Wirklichkeit auch ist. Auch glaube ich Wegner nicht ganz, dass er an den Determinismus glaubt, denn ein ernsthafter Glaube an diesen muss unweigerlich in Depression und Geisteskrankheit führen (dies sogar nach wissenschaftlicher Definition der Depression: ja dort heisst es, dass depressive Menschen hoffnungslos und hilflos sind, also nicht daran glauben, mit ihren Aktionen etwas erreichen zu können. Dasselbe wäre ja wahr für jemanden, der an den Determinismus glaubt…)

Anyway, solche Erfahrungen sind gut und es hat sich wieder einmal gezeigt, dass sich das Leben nicht in objektiven und allgemeinen Gedanken abspielt, sondern in der einzigartigen Konkretheit, in der höchstpersönlichen Begegnung mit dem Leben. Ich weiss, das sind grosse Worte, doch du weisst ja, was ich meine.

Nun habe ich noch zwei Prüfungen und zwei Paper zu schreiben. Glücklicherweise ist alles über zwei Wochen verstreut, so dass ich mehr Zeit habe als je zuvor im Semester. Ich habe nun eingesehen, dass es Studieren und Wissenschaft nicht sein kein. Ich werde wohl dann noch in der Schweiz meinen Master absolvieren, um mir die eine allfällige Laufbahn in der Psychotherapy zu ermöglichen (wahrscheinlich eher als Patient denn als Therapeut). Für die, die es noch nicht wissen: Die Psychotherapie ist ohnehin nur dazu da, dass sich der Therapeut durch die Patienten heilen lassen kann :-).