Die Kunst der Langsamkeit

Langsamkeit ist eigentlich zu einem Schimpfwort geworden in unserer heutigen Gesellschaft, in der es nicht schnell genug gehen kann. Die Schnelligkeit und Effizienz werden als höchste Ziele des Lebens angepriesen, ja man opfert ihnen alles und verkauft ihnen die Seele. Nicht nur die Wirtschaft, sondern seit längerer Zeit auch schon unser Leben gleichen einem unterwürfigen Gottesdienst an diesen Maximen. Die langsamere Maschine scheidet aus dem Markt aus, so auch der Arbeiter, der nicht genug Output leistet. Im Lichte der Gewinnmaximierung, des Macht- und Besitzmaximierens, die dem heutigen Menschen das wichtigste sind, scheint das Wetteifern um Schnelligkeit und Effizienz ein logischer Schluss zu sein.

Wenn ein kleines Mädchen oder ein Knabe in die Primarschule kommt, ist es mit dem unschuldigen Kindesleben vorbei. Von da an ist die Kindheit und später die Jugend unter dem Schatten der Leistung und Strebsamkeit, ja die Menschen werden zur Hochleistung herangezüchtet. Die Noten trennen die Spreu vom Weizen, also die, die Fähig sind, dem Kult der Effizienz und Schnelligkeit zu dienen, werden von denen getrennt, die eben diesen Prinzipien nicht genügen. Das Gefühl des Kindes, ein vollwertiger Mensch zu sein, wird immer mehr davon abhängig, ob es gute oder schlechte Noten kriegt. Auch die Eltern freuen sich über die guten schulischen Leistungen des Kindes oder tadeln es, wenn es eine schlechte Note nachhause bringt. In der selben Weise wird dann der Mensch in der Mühle der Wirtschaft abgeschliffen, verbraucht und dann weggeworfen, wenn er ihr nichts mehr nützt, so wie eine alte Maschine, die man ausmustert.

Unsere Wirtschaft und unser Erziehungswesen kümmern sich nicht um die feinen seelischen Nuancen des Menschen, sondern vergewaltigt diese und zwingt sie, anstatt dass sich die Seele dem Leben, der Liebe und dem schöpferischen Schaffen hingeben könnte, zu einem Frondienst an der Gewinnsteigerungsmaschinerie und am politischen Machtapparat. Die Menschen verstehen sich nur noch als ein Rädchen in der Wirtschafts- und Gesellschaftsmaschinerie und schlagen die Zeit, die ihnen noch für die Entfaltung ihrer Seele bleibt, tot. Vermutlich war die Allgemeinheit der Menschen noch nie so frei wie heute. Früher konnten sich nur Wohlhabende mit den Künsten und der Philosophie befassen, bzw. einer Tätigkeit nachgehen, deren eigentlicher Sinn nicht im Gelderwerb liegt. Diese äussere Freiheit haben heute mehr Menschen denn je; dennoch werfen sie sich anderen Götzen in die Arme, verstecken sich vor ihrer Seele, wollen sie mit Alkohol, dem Fernsehen und anderer Unterhaltung, zum stillschweigen bringen. Über längere Zeit lässt sich die Seele nicht betäuben. Unweigerlich wird man, wenn die Zeit dazu reif ist, wachgerüttelt, sei es durch ein äusseres Ereignis wie eine Krankheit oder eines in der Seele selbst, wie zum Beispiel eine Depression oder Angstzustände.

Im Moment benutze ich täglich die Untergrundbahn, wo ich oftmals längere Zeit auf einen Zug warten muss. Ich merke, dass mir oft dieses Warten sehr lästig wird und ich beginne herumzulaufen oder von einem Bein zum anderen zu wippen. Obwohl meine Gedanken mich wegzutragen versuchen, werde ich immer wieder von einer Ungeduld heimgesucht, die mich wieder dazu drängt, nach dem Zug Ausschau zu halten. Offensichtlich fällt mir das Stillstehen, das Warten nicht sehr leicht. Ich habe einen inneren Drang, weiterzugehen, nicht zu verharren. Vielleicht habe ich Angst, dass ich etwas verpassen könnte, dass ich zu spät in der Schule sein könnte.

Ganz ähnlich verhält es sich, wenn ich zu Fuss unterwegs bin. Meistens gehe ich mit einem derartigen Schritt, dass ich die meisten, wenn nicht alle Leute einhole, die mit mir auf dem gleichen Weg sind. Schon vor längerer Zeit ist es mir zur Gewohnheit geworden, dass ich sehr schnell gehe. Auch als ich täglich um den Hügel spaziert bin, wo ich für drei Jahre gewohnt habe, habe ich dies auch mit schnellem Schritte getan. Oftmals lief ich gerade so schnell, dass ein schnelleres Gehen unweigerlich in ein Rennen gemündet hätte. Auch als ich in letzter Zeit die Schulaufgaben machte, habe ich mich zu einem hohen Tempo gedrängt, doch ich habe schliesslich nicht nur mehr Zeit investiert, sondern mich in einen Perfektionismus hineingesteigert und einen Druck hineingesteigert. Dieses Verhalten hat sich dann bis zur Unerträglichkeit aufgeschaukelt, bis ich einfach nicht mehr konnte, bis ich völlig erschöpft war. Als ich dann einmal hingesessen bin, kam ich langsam mit der Leere in Berührung, die von meiner Seele ins Bewusstsein hinaufkroch. So oder ähnlich streben viele Menschen und sind gar stolz und brüsten sich mit der Anzahl Terminen, die sie heute einzuhalten haben, mit all den Projekten, die sie sich aufgelastet haben. Es ist letztlich ein Davonlaufen, eine Flucht.

Wovor sind wir den auf der Flucht? Vor uns selbst, vor dem, was uns bewusst werden könnte? Wir haben wohl Angst wahrzunehmen, was die Stimme in unserem Inneren wirklich sagt. Wenn man sie nämlich hört, kann man sich nur noch mit dem Gefühl abwenden, dass man sich aus einer Verantwortung davongestohlen hat. Ein Sehender kann sich nicht mehr darauf berufen, dass er es eben nicht gesehen hat. Ein Wissender kann sich nicht mehr entlasten, dass er es nicht gewusst hat. Es gibt dann keine Entschuldigung mehr, nur noch eine Lüge. Die meisten Menschen scheinen eine grosse Angst vor Veränderungen zu haben, vor Wandlungen, vor Wachstum; sie bleiben lieber bei dem Leben, das sie jetzt haben, und machen es sich zur Aufgabe, dieses zu konservieren. Dabei wenden sie sich bewusst von der Tatsache ab, dass im Leben sich eben alles verändert, so sehr man sich auch dagegen stemmt. Gegen die Strömung eines Flusses anzuschwimmen, erfordert grosse Energie, und doch werden wir weggeschwemmt und verschwenden dabei unsere Kraft. Wenn man mit dem Schicksal im Einklang steht, wenn man sich der Strömung hingibt, dann wird alles ganz plötzlich leicht, das Notwendige ergibt sich wie von selbst.

Nicht nur aus der Angst, uns selber erkennen zu können, fliehen wir, sondern auch aus Angst, von anderen nicht bewundert zu werden, von ihnen nicht geliebt und anerkannt zu werden. Wir versuchen uns dabei, unser Selbstbewusstsein — ein scheinbares notabene — aufzubauen und stützen es auf beruflichen Erfolg oder zum Beispiel auf die physische Erscheinung, also dem Aussehen des Körpers. Vielleicht streben wir auch nach möglichst viel Wissen, um uns gegen die anderen verteidigen zu können, um uns damit brüsten zu können. Unweigerlich trennt uns das von den anderen Menschen, und so ist es nicht erstaunlich, dass gerade die Vereinsamung des Menschen ein Symptom unserer Zeit ist. Beruflicher Erfolg, das Aussehen des Körpers und Wissen sind veränderlich und dauern nicht ewig, dauern manchmal nicht mal Tage. Wer also sein Selbstverständnis auf diesen vergänglichen Dingen aufbaut, dessen Selbstbewusstsein wird ebenso von dieser Vergänglichkeit zerfressen werden. So entbrannt ein stetiger Kampf, dieses vor seinem Verfall zu retten, es auszubauen mit neuen Höchstleistungen, mit noch mehr beruflichem Erfolg usw. Es erstaunt nicht, dass der Herzinfarkt schon zur Normalität gehört und sich eine gewaltige Industrie entwickelt hat, die sicherstellen soll, dass wir nicht verwelken, dass wir ewig jugendlich aussehen. Die Jugendlichkeit und der berufliche Erfolg haben ein Ende. Alles materielle hat ein Ende.

Wer aber sein Selbstverständnis auf dem Wandel aufbaut, sich täglich der inneren Stimme und der äusseren Welt gegenüber verantwortet, der baut auf dauerhaftem Grund. Ebenso sind der Glaube, die Liebe und die Hoffnung ewig. Wer danach strebt, der Baut sein Haus auf einen Felsen. So lange wir leben, leben wir ewig; das heisst, sich selbst täglich zu verbessern und zu vervollkommnen, an sich selbst zu arbeiten, auch das kann uns nie entrissen werden, ausser mit dem Tode. Wenn man nach den Gesetzen lebt, die ewig gültig sind, dann kann einen nichts erschüttern, dann blättert die Angst von uns ab. Die Anerkennung anderer Menschen ist schön, wenn sie geschieht, doch sie endet und ist Wandlungen unterworfen. Baut man sein Selbstbewusstsein auf dieser Anerkennung auf, lebt man in Angst und Abhängigkeit von anderen Menschen, man ist sozusagen nicht der Herr im eigenen Haus. Darum glaube ich, dass es von grösster Wichtigkeit ist herauszufinden, was ewig ist und was schon morgen nicht mehr wahr ist.

Wir sind also auf der Flucht vor der Wirklichkeit. Wir haben Angst, weil wir unser Lebensfundament auf Sand gebaut haben, weil wir festhalten wollen, wo wir loslassen müssen, weil wir verbittert suchen, wo wir einfach finden müssen. Picasso soll einmal gesagt haben, dass er eben nicht suche, sondern finde. Das Streben, das sich beim näheren Hinsehen als eine Flucht entpuppt, ist Suchen. Der Suchende glaubt, dass das Gesuchte an einem anderen Ort ist und dass es vielleicht ein anderer hat. Ebenso richtet sich der Suchende auf die Zukunft ein, weil er das Gesuchte noch nicht gefunden hat, es vielleicht gar nicht finden wird. Das Leben des Suchenden ist also das Leben eines nimmer zufriedenen, eines ungeduldigen, eines strebenden, eines verzweifelten. Wer diese Suche nicht erträgt, wer an ihr verbittert, dem bleibt nur noch der Selbstmord oder die Betäubung übrig. Jede Unterhaltung, wo sie nur ein säuglinghaftes Aufnehmen ist, ist eine Betäubung. Der sich betäubende will nicht der Realität gegenüberstehen, er will wieder in den Schoss der Mutter zurück. Es ist nicht überraschend, das viele Menschen ihre Freizeit nur noch der Unterhaltung widmen, dem Ausspannen und Ablenken: Man surft auf dem Internet, man sieht fern, man geht ins Kino, man betrinkt sich, man telefoniert. Natürlich sind all diese Geräte und Tätigkeiten an sich nichts schlechtes und wenn sie nicht zur Betäubung verwendet werden, können sie gar das Lebendige intensivieren, es unterstützten und unser Leben bereichern. Leider steht aber die Betäubung meistens im Vordergrund. Das über den Suchenden ausgesagte passt ziemlich gut zu meiner Ungeduld in der U-Bahnstation, es zeigt sich in meiner Strebsamkeit im Studium etc.

Ein ganz anderer Mensch ist der Findende, und hier schliesst sich der Kreis, denn der Findende bewegt sich anmutig und langsam. Er tut alles langsam, weil er es intensiv tut, weil er sich im Augenblick vollständig seiner Aufgabe, seinem Schicksal hingibt. Er such nicht nach etwas, er ist nicht gehetzt, denn es ist alles ja schon da! Der Findende nimmt das an die Hand und schickt sich in das hinein, was er vorfindet. Er will nicht an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit oder gar in einer anderen Situation sein. Weil das Gegebenheiten sind, weil das eben die Realität ist, wäre es gerade zu töricht, wollte man irgendwo anders sein als dort, wo man jetzt steht. Das ist wohl etwa dasselbe, wie wenn jemand bei Regenwetter, die Sonne suchen geht, und dabei nicht nur das Wunderbare des Regens übersieht, sondern sich gar noch aufregt. Manchmal kann man tatsächlich die Sonne suchen gehen, wenn man sich ins Auto setzt und weit genug fährt. In dieser Hinsicht hinkt der Vergleich. Eine solche Flucht ist aus der Realität nicht möglich, wir stecken eben drin. Wenn man aber dennoch fliehen will, wie oben dargestellt, dann führt das unweigerlich zur Unruhe, zu Gereiztheit und allgemein zur seelischen Krankheit. Der Findende ist nun eben der, der sich mit dem abgibt, was sich jetzt um ihn herum in seinem Leben vorfindet. Was er gestern vorfand ist nun gegenstandslos, was er morgen vorfinden wird, ist jetzt nicht von Bedeutung. Das gestrige ist nicht mehr zu ändern, das morgige wird dann morgen zu regeln sein. Sich dem heutigen Tag voll hinzugeben ist nicht möglich, wenn man mit den Gedanken schon beim nächsten Tag ist.

Natürlich gibt es sehr viele Versuchungen, Ablenkungen und Abwehrmechanismen in unserer Psyche, die uns wieder von diesem Lebensweg des Findens abbringen. Der Findende versucht das beste aus dem zu machen, was ihm zugereicht wird. Er vergleicht die Aufgabe nicht mit denen von anderen Menschen, findet seine nicht härter, nicht leichter, nicht schöner, nicht schlechter. Jeder solche Gedanke würde ihn nur ablenken von seiner Aufgabe, der er ja ohnehin nicht entweichen kann.

Der Findende ist durchaus nicht immer langsam unterwegs, doch er ist nie gehetzt, nie gestresst. Er hat stets Geduld und nimmt es eben so, wie es ist. Er kann in Ruhe warten und auch müssig gehen. In den letzten Tagen habe ich mir ein Spiel daraus gemacht, mich im langsamen Gehen zu üben. An den Tagen, an denen ich mehr der findende bin, fällt es mir sehr leicht und ist daher ein Barometer für meine Lebensnähe. An solchen Tagen werde ich von den meisten Menschen überholt, ich überhole kaum jemanden. An anderen Tagen nehme ich nicht viel wahr, von dem, was um mich herum geschieht, ich stolziere schnellen Schrittes dahin, überhole eine Person nach der anderen, niemand überholt mich, denn ich gehe an der Grenze der Geschwindigkeit, die mir das Gehen erlaubt. Jede schnellere Bewegung würde ins Rennen münden. Man könnte jetzt diese Messlatte auf die Kultur ausweiten. Das Tempo, in welchem sich die Menschen fortbewegen, lässt erahnen, wie sehr sie suchende oder findende sind. Wie gesagt, kann der Findende auch einmal schnell gehen oder gar rennen, doch er kann jeder Zeit verlangsamen. Schnelligkeit ist an sich nichts schlechtes. Der Findende kann auch etwas schnell erledigen, doch er strebt nicht und möchte das zu erledigende nicht schon fertig haben, bevor er es angefangen hat. Man könnte vielleicht von einer geduldigen Schnelligkeit, oder einer Schnelligkeit voller Geduld sprechen. Der Findende zeichnet sich also dadurch aus, dass er das Vermögen hat, langsam zu gehen, was einem sichtlich schwerfällt oder überhaupt nicht gelingen mag, wenn man innerlich unruhig ist und auf der Suche nach etwas ist. Was für das schnelle Gehen gilt, ist ebenso für jedes langsame und konzentrierte Tätigsein wahr, wie zum Beispiel das langsam Atmen oder das konzentrierte Zuhören und man sich zurückhält, auch wenn man unbedingt etwas zu sagen hätte.

Wie wird man vom Suchenden zu einem Findenden? Das ist wohl die entscheidende Frage in unserem Leben. Ich kenne die Antwort auch nicht, vielleicht kann ich aber eine stammeln.

Die Aufgabe jedes Ehrgeizes und Strebens ist eine Voraussetzung für das Leben, das im Zeichen des Findens stehen soll. Meistens stehen Ängste diesem Aufgeben und Loslassen im Wege. Wir streben ja nicht aus innerer Notwendigkeit, denn das schliesst sich gegenseitig aus. Wenn etwas aus innerer Notwendigkeit geschieht, geschieht es immer fast wie von selbst, es braucht keinen Druck, der vom Verstand aufgesetzt wird. Unser Streben ist also immer ein Zeichen dafür, dass wir uns auf einem Weg befinden, der nicht unserer inneren Notwendigkeit entspringt, sondern den wir uns aufgepfropft haben. Jedem Streben sitzt eine Angst zugrunde. Dem Geltungsstrebenden geht es darum, die Angst, nichts zu gelten, zu überwinden; dem nach Reichtum und Besitz strebenden geht es um die materielle Existenzangst. Wenn man noch tiefer gräbt, eröffnet sich einem schnell, dass all diesen Ängste ein paar grosse Urängste zugrunde liegen: Angst vor dem Tod, Angst vor der Veränderung und Wandlung, Angst vor der Abgetrenntheit und der Einsamkeit (die Angst nicht geliebt zu werden): Lebensangst! Deshalb ist das Aufgeben des Ehrgeizes und des Strebens, das für ein Leben des Findens eine Voraussetzung ist, immer damit Verknüpft, dass man sich diesen Ängsten gegenübergestellt sieht, dass man ihnen begegnen muss, sie annehmen muss und sie überwinden muss. Noch möchte ich anfügen, dass die Aufgabe jeglichen Strebens nicht zur Verantwortungslosigkeit führt, sondern im Gegenteil führt diese zur wahren Verantwortung gegenüber dem Leben, den Mitmenschen, dem Lebendigen also.

Sie wie das Ablegen des Ehrgeizes und des Strebens ein Loslassen ist, das einem ermöglicht, offen zu sein, wirklich die Gegenwart zu sehen, eben vorzufinden was da ist. Doch damit ist der entscheidende Schritt noch nicht getan. Wenn man eben wirklich sieht, was da ist, kann man sich nicht mehr darauf berufen, man sei blind, man habe es eben nicht gesehen. Man hat also auf das vorgefundene zu antworten: Das ist Verantwortung!

Ein drittes liegt all diesem zu Grunde: Ehrlichkeit. Wer sich selbst gegenüber nicht aufrichtig ist, kann nicht die Ängste sehen, kann nicht das Streben durchschauen und es aufheben, er kann auch nicht die Gegenwart sehen und er ist nicht in der Lage zu antworten, weil er Angst hat, man könnte ihn erkennen, sein wahres Gesicht könne zum Vorschein kommen. Die Unehrlichkeit ist das grösste Hindernis zwischen unserem Leben und uns, zwischen unseren Mitmenschen und uns. Unehrlichkeit löst Angst aus, sie hält die Angst am Leben und führt zur Filterung des Vorgefundenen, sie führt zur Filterung der Antwort, sie verbiegt alles, sie entwirklicht alles. So ist auch jedes Philosophieren, dass nicht unter dem Sterne der Ehrlichkeit steht dazu bestimmt, in der Finsternis zu ersticken. Vor der Ehrlichkeit im allgemeinen kommt die Ehrlichkeit gegenüber sich selbst. Das ist auch ein Schritt der nötig ist, um die Ängste zu besiegen, die dem Streben zugrunde liegen und uns schliesslich von der Lebenshaltung des Findens abhalten.

Ehrlichkeit und Verantwortung sind für den Findenden die höchsten Werte. Aus diesen beiden wächst, Unmittelbarkeit, Rückhaltlosigkeit und Liebe. Ihn ihnen ist die Hoffnung und der Glaube. Unmittelbarkeit und Ehrlichkeit sind eins, Liebe und Verantwortung sind eins.

Verantwortung ist die aktive Lebensführung, die darauf ausgerichtet ist und antwortet auf das, was wir vorfinden, was eben uns durch das Schicksal in die Hand gegeben worden ist. Wir können nicht die ganze Welt umarmen, doch den kleinen Bereich der Schöpfung, der uns anvertraut worden ist, dem gegenüber sind wir verantwortlich, darin sind wir Schöpfer, ihn können, müssen wir umarmen.

Ehrlichkeit und Verantwortung brauchen Mut. Man hat sie nie auf sicher, man muss sie jeden Tag von neuem erringen, sie müssen sich immer wieder neu ereignen, wir müssen uns in jeder Stunde wieder darum bemühen. Doch mit jedem Schritt in dieses Wagnis, fällt einem der nächste Schritt leichter, doch der Schritt muss immer wieder getan werden, er braucht immer Mut. Woher kommt der Mut? Ein Leben in Ehrlichkeit und Verantwortung stiften eine Klarheit, die einem die Gewissheit geben, auf dem richtigen Weg zu gehen. Die Verantwortung ist der Sinn des Lebens. Sobald man sich wirklich gegenüber dem Leben verantwortet, verschwindet die Frage nach dem Sinn des Lebens, denn die Antwort geben wir immerfort selbst, indem wir uns gegenüber dem uns anvertrauten Teil der Schöpfung verantworten. Diese Klarheit und Gewissheit nähren den Mut, geben uns Mut. Jeder Schritt in die Wirklichkeit, d.h. jeder Schritt in die Verantwortlichkeit und in die Ehrlichkeit, wenn er gelungen ist, erfüllt einen mit einer unglaublichen Energie, Lebensenergie und Lebensmut. Doch wie macht man den ersten Schritt, dann, wenn man noch nie diesen Schritt gemacht hat? Ich glaube, dass die Ehrlichkeit bald dazu führt, dass man sieht, wie schicksalhaft das Leben ist: In der Ehrlichkeit sehen wir, dass es nur die ewige Gegenwart gibt, aber auch dass wir selbst nicht ewig sind, die Gegenwart aber schon. Wir sehen den Tod, vor dem wir Angst hatten. Im Angesicht des Todes, weiss man plötzlich wie nirgends sonst von der Lebendigkeit des Lebens. Der Tod ist der Imperativ, den Schritt jetzt zu tun, denn morgen wird es nie, es ist nur immer jetzt. Morgen ist der Schritt nicht einfacher als heute, vielleicht sogar schwerer. Die Klarheit und Gewissheit, die aus dem ehrlichen und verantwortungsvollen Leben kommen, bringen auch die Angst vor dem Tod zum verschwinden, der Tod verliert seine Bedrohlichkeit, weil wir das Leben leben, weil wir in der ewigen Gegenwart leben und uns ihr gegenüber als Geschöpfe verantworten. Ja, die Angst vor dem Tod, die Nostalgie und das Leben in der Zukunft zeugen von der Abwesenheit des Findens. Für den Findenden gibt es die Angst und die Flucht nicht, er geht in das Leben, trotz Angst. Das ist das einzige, was wir können. Nein, wir müssen, wir haben keine andere Wahl, wollen wir nicht schon heute lebendig tot sein! So wie die Frage nach dem Sinn des Lebens verschwindet, verschwindet die Frage nach dem Sinn des Todes, verschwindet die Angst vor dem Tod, wenn man Findender geworden ist.

Geht in das Leben, tut den Anfang jetzt, tut den Schritt in das Wagnis jetzt! Das ist das Abenteuer wirkliche Abenteuer! Dort wirst du gebraucht! Dort ist dein Sinn! Höre auf zu lügen, höre auf dich zu verstecken, dich deiner selbst zu schämen! Du bist ein Mensch, sterblich und verletzlich, aber fähig zu lieben, zu schöpfen! Das eine gibt es nicht ohne das andere. Man kann nicht Härte leugnen und gleichzeitig lieben, man kann nicht Unsterblichkeit leugnen und gleichzeitig Schöpfen. Es ist wunderbar ein Mensch zu sein, es ist bitter-süss, doch aber es ist, es ist das einzige das ist, alles andere ist Lüge! Gerade in der grössten Verletzlichkeit, gerade im Angesicht des Todes ist die Begegnung am Tiefsten, ist die Liebe am grössten, ist das Leben am lebendigsten, ist der Sinn erfüllt. Die Verleugnung dieser, ist die Verleugnung des Lebens, des Menschen und deiner selbst!

Ich möchte diesen Text mit zwei Zitaten von Martin Buber abschliessen, die das gesagte nochmals sagen, noch viel deutlicher und schöner sagen, als ich es jemals tun könnte:

Du musst selber anfangen. Das Sein wird dir sinnlos bleiben, wenn du nicht selber, liebend-tätig, in es eingehst und den Sinn in ihm erschliesst; alles will geheiligt, d.h. in seinem Sinn erschlossen werden und verwirklicht werden durch dich. Um dieses Anfanges Willen hat Gott die Welt erschaffen. ([1], S. 19)

Die meisten von uns gelangen nur in seltenen Augenblicken zum vollständigen Bewusstsein der Tatsache, dass wir die Erfüllung das Daseins nicht zu kosten bekommen haben, dass unser Leben am wahren erfüllten Dasein nicht teilhat, dass es gleichsam am wahren Dasein vorbei gelebt wird. Dennoch fühlen wir den Mangel immerzu, in irgendeinem Masse bemühen wir uns, irgendwo das zu finden, was uns fehlt. Irgendwo in irgendeinem Bezirk der Welt oder des Geistes, nur nicht da, wo wir stehen, da, wo wir hingestellt worden sind — gerade da und nirgendwo anders aber ist der Schatz zu finden. Die Umwelt, die ich als die natürliche empfinde, die Situation, die mir schicksalhaft zugeteilt ist, was mir Tag um Tag begegnet, was mich Tag und Tag anfordert, hier ist meine wesentliche Aufgabe und hier die Erfüllung des Daseins, die mir offen steht. ([1], S. 28)

Das Wesen der Langsamkeit hat uns schliesslich zum Leben des Findens geführt. Die Langsamkeit selbst ist nicht das Finden, doch sie ist ein Ausdruck dieses Lebens, ein Zeuge. Wenn immer ich schnell gehe, wenn ich mich angetrieben fühle, dann weiss ich, ich laufe dem Sinn, dem Leben davon. Meinen Gang zu verlangsamen führt zu nichts, ich muss umkehren zum Leben, mich dem Wagnis stellen, in es wieder zurückgehen und mich ihm verantworten, dann verlangsamt sich der Gang von alleine.

Literaturverzeichnis

[1] M. Buber: Den Menschen erfahren (Biester, B., ed.). Kiefel, 2000. URL http://books.google.ch/books?id=iF3DAAAACAAJ.

(verfasst am 10. März 2003 in Philadelphia)