Ein Kurzgeschichten-Experiment

Eine Kurzgeschichte soll ich schreiben? Wer hat mir denn das eingebrockt? Meine innere Stimme. Nicht ganz, denn diese hätte gerne eine lange Geschichte geschrieben, doch das hab’ ich nicht drauf, noch nicht. Und überhaupt: Eine Kurzgeschichte könnte ja auch plötzlich vom geplanten Schluss abweichen und ganz lange werden. Mal sehen.

Das schöne am Schreiben ist, dass ich die Welt so erschaffen kann, wie ich sie gerne hätte, bzw. im Idealfall so, dass sie den Lesern Wirklichkeit, Lebensweisheit vermittelt. Doch leider habe ich diese Weisheit nicht und so erschaffe ich mal diese Welt, wie ich sie gerne hätte.

Ich starre aus dem Fenster des Postautos auf die Strasse hinaus. Im Hintergrund das Wohngebiet meiner Kindheit mit den farbigen Häusern, bzw. mit den farbigen «Blöcken», wie wir sie nannten. Es liegt ein langer Arbeitstag hinter mir. Ich starre aus dem Fenster. Ein Auto fährt fast auf die gleiche Höhe wie ich, etwas nach hinten versetzt. Mein Sitz steht gegen die Fahrtrichtung, direkt am Fenster, welches zur Strassenmitte hingewandt ist. Meine Augen gleiten vom Beifahrersitz, auf welchem eine etwa 45-jährige Frau eine Strassenkarte liest zum hinteren Sitz auf der gleichen Seite, wo sich eine junge Frau befindet mit dunkelblonden langen Haaren. Nachdem mein Blick an ihrem Trägershirt über ihre kleinen Brüste nach oben gewandert ist, treffen sich unsere Blicke. Unsere Augen verweilen beieinander länger als durch soziale Normen erlaubt. Es prickelt in meinen Armen und ein warmer Schwall ergiesst sich über meinen Rücken. Noch bevor der Blickkontakt, bzw. die Blickberührung zum Starren geworden wäre, winkt sie mir. Ich lächle und winke zurück. Sie lächelt…

Sie springt aus dem Auto und rennt dem Postauto nach, das langsam ins Rollen kommt. Bei der nächsten Haltestelle, warte ich ungeduldig vor der Tür, zwänge mich durch, als sie sich zu öffnen beginnt. Auf dem Trottoir angekommen, sehe ich sie in meine Richtung rennen, mit ausgebreiteten Armen, mit einem Gesicht das sagt: «Hey du, ich liebe dich! Dich habe ich schon mein ganzes Leben gesucht!» Ich laufe ihr entgegen, immer schneller werdend. Bevor wir einander in die Arme fallen, verlangsamt sich die Welt. Es geschieht alles in Zeitlupe wie in schlechten Filmen. Ihre blauen Augen, ozeantief, verschlingen mich. Sie lächelt mich an; es ist alles verklärt; alle Verletzungen, alle unerwiderten Lieben sind vergessen. Langsam gleiten unsere Armen ineinander, ihre Hände berühren mich sanft, streicheln mich zärtlich, ihre Armen umfassen mich. Sie ist mir vertraut, als ob ich sie schon immer gekannt hätte…

Nein, so war es natürlich nicht. Das Postauto konnte an der Kreuzung vor dem Rotlicht zuerst wegfahren. Das Auto bog vermutlich nach links ab.

(verfasst am 31. August 2009)