Mein Herz schlägt nicht mehr

Es ist Sonntag. Während ich die Kaffeetasse zu meinem Mund führe und vorsichtig mich mit der Lippe zur heissen, schwarzen Flüssigkeit vortaste, habe ich plötzlich das Gefühl, mein Herz habe aufgehört zu schlagen. Ich suche verzweifelt mit meinem inneren Auge den ganzen Körper ab, von den Fingerspitzen zur Schulter, zum Herzen und dann an der Aorta entlang hinunter zu den Zehen, um ein Indiz zu finden, dass mein Herz noch schlägt. Nichts. Keinen Puls, den ich spüren könnte. Ich sitze vor dem Computer, starre auf ein leeres Textdokument, das ich gerade offen habe, und ich muss feststellen: Bei Bewusstsein bin ich noch, denn sonst würde ich das nicht mehr sehen. Wohl schlägt das Herz noch, ich spüre einfach im Moment keinen Puls…

Nach ein paar weiteren Schlücken, als ich schon ein paar Sätze geschrieben habe, empfinde ich einen Unterdruck in meinem Brustkorb, das Herz scheint nicht mehr zu schlagen, ich gleite in Gedanken einen glitschigen, rutschigen roten Abhang hinunter, immer schneller werdend. Keinen Halt. Mir wird schwindlig. Ich fange an schneller zu atmen, oberflächlicher. Immer wieder halte ich inne, um zu lauschen, ob mein Herz noch schlägt. Nichts. Danach breitet sich immer wieder von neuem wie ein Blitz eine heisse Adrenalinwelle ausgehend von meinem Herzen in meinen Körper aus. Die Welt um mich fällt zusammen und verkleinert sich auf einen Punkt. Durch Husten und Räuspern versuche ich, das Herz wieder in Gang zu bringen. Das Textdokument mit den paar Sätzen schwimmt vor meine Augen, wie durch Wasser blicke ich es an. Sich noch in Wellenform bewegend, wird es auf einen Schlag still und scharf. Ich spüre den Bürostuhl unter mir und das Gewicht, mit welchem meine Fusssohlen auf den Boden drücken. Ich starre immer noch auf das Textdokument und stelle fest: Bei Bewusstsein bin ich noch. Wie lange noch? Wie lange kann ein Mensch ohne Herzschlag überleben und bei Bewusstsein bleiben?

Als ich die Kaffeetasse erneut hochhebe und an meine Lippen führen will, muss ich auf halbem Weg die Bewegung unterbrechen und die Tasse wieder hinstellen. In meinen Fingern kribbelt es, so dass ich kaum noch ein Gefühl in meiner Hand habe. Meine Hände zittern. Ich schaue auf und will einen Punkt in meinem Wohnzimmer fixieren. Die Welt dreht sich immer schneller, die Konturen der Gegenstände verlaufen und gehen ineinander über. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Plötzlich steht die Umgebung still und blickt mich eindringlich an. Gleichzeitig wird es in meinem Brustkorb immer enger; ich bin wie in meinem eigenen Körper eingesperrt. Meine Lippen zucken und fühlen sich an, als ob sie geschwollen wären. Ich fahre von meinem Bürostuhl hoch, stolpere ein paar Schritte ins nächste Zimmer, fasse mir an die Brust und lasse mich zu Boden fallen. Mein Herz schlägt ja schon seit ein paar Sekunden nicht mehr. Die restliche Lebensenergie, die mir jetzt noch bleibt, ist vergleichbar mit einem aufgezogenen Schwungrad, welches ein Spielzeugauto für eine Weile autonom fahren lässt, aber dann unweigerlich zum Stillstand kommt. Wie lange hält mich mein “Schwungrad” noch bei Bewusstsein?

Meine Schienbeine liegen auf der hölzernen Türschwelle, meine Füsse reichen noch in den anderen Raum. Ich blicke mit grossen Augen die Umgebung an und bin mir nicht sicher, ob das wirklich geschieht, ob ich nicht eigentlich träume. Meine zwei Katzen schauen mich ungläubig an; bald streichen sie verwirrt um mich herum, bald setzen sie sich neben mich, voller Neugier, was als nächstes käme. Durch das Hinlegen hoffe ich, den verbleibenden Schwung noch etwas hinauszögern zu können. Ich versuche auch mein Herz zu entlasten, denn vielleicht schlägt es ja immer noch, denn wie könnte ich sonst jetzt noch bei Bewusstsein sein (Ich hatte mal gelesen, dass man bei einem Herzstillstand sofort zu Boden sackt und bewusstlos wird)? Ich muss dieser Situation sofort entkommen. Ich springe auf, ziehe meine Strassenkleider an. Meine Atmung ist unregelmässig und schnell. Vor lauter Nervosität und tauben Händen ist es mir fast unmöglich meine Schuhe zu binden. Es dauert eine Ewigkeit, bis ich endlich meine Wohnung verlassen kann. Ich springe in aller Eile die Treppen hinunter und erreiche nach dem Öffnen der schweren, alten Haustür endlich die frische Luft. Jetzt fühle ich mich ein bisschen besser.

Mit schnellem Schritt, völlig verängstigt, gehe ich der kleinen Quartierstrasse entlang, die von einer grösseren Verkehrsader wegführt. Ich folge ihr bis zum Wendeplatz, wonach ein Weg weiterführt, der nach rechts abbiegt und in eine Treppe übergeht, die den Hang hinaufführt zu weiteren Häusern. Nach ein paar Tritten hohle ich mich selbst wieder ein: Plötzlich ist mir, als ob der Boden mir unter den Füssen weggleitet. Ich versuche meinen Gang zu beschleunigen, doch ich kann dieses Gefühl der Enge in meinem Brustkorb nicht mehr abschütteln: Sogar hier! Sogar diese Treppe hinauf bist du mir gefolgt!

Sofort kehre ich um, der selben Strasse entlang, gehe aber nicht in mein Haus zurück, sondern folgte der Quartierstrasse in entgegengesetzter Richtung, bis ich schliesslich die Hauptstrasse erreiche. Um drei Uhr werde ich mich noch mit meinem Freund Felix treffen. Sowohl zu Fuss als auch mit dem Bus wäre es noch zu früh, doch ich kann jetzt unmöglich in meine Wohnung zurück. Sie ist nicht mehr sicher. Im Eiltempo gehe ich die Strasse hinunter, die direkt ins tiefer gelegene Stadtzentrum führt. Noch vor der Busshaltestelle überquere ich die Strasse und schreite auf dem Trottoir voran, das der Talseite zugewendet ist.

In meinem Brustkorb wird es immer enger. Er zieht sich zusammen, immer wieder in kürzer werdenden Zeitabständen. Dazwischen gibt es nicht eigentliche Entspannungsphasen, sondern der Druck nimmt immer mehr zu. Mit meinem Herzen stimmt etwas nicht! Ich habe einen Herzanfall! Ich gehe nun fast im Laufschritt weiter die Strasse hinunter: Solange ich laufe, bin ich sicher. Ich muss was machen! Ich habe aber kein Kleingeld, um im Spital anzurufen. So laufe ich an der Telefonzelle vorbei bis zur nächsten Kreuzung, wo ich in meiner Verzweiflung ein Auto anhalte, hastig spricht es aus mir heraus: “Ich habe einen Herzanfall und muss dringend auf die Notfallstation. Ich habe kein Kleingeld für das Telefon. Können Sie mich auf den Notfall bringen?” Diese Situation ist mir trotz meiner lebensbedrohlichen Situation äusserst peinlich. Nachdem der Fahrer das Fenster auf der Beifahrerseite heruntergelassen hat, entgegnet er: “Ich kann Sie nicht ins Krankenhaus fahren, weil ich noch vieles zu erledigen habe. Ohnehin sind Notfallnummern gratis und können von jedem Telefonapparat gewählt werden.”

Mit dieser Information renne ich zurück zur Telefonzelle, die sich etwa 100 Meter die Strasse hinauf befindet. In der Telefonzelle angekommen, schliesse ich die Tür hinter mir. Es ist jetzt ganz still. Der Lärm der vielbefahrenen Strasse ist nur noch wahrnehmbar als leises, fernes Rauschen. Mit zittrigen Händen blättere ich im Telefonbuch, um die Nummer für medizinische Notfälle zu finden: 144. Ich wähle sie, es klingelt ein paar Mal. “Hier Notrufdienst Gerber, guten Tag”, meldet sich eine ruhige, männliche Stimme auf der anderen Seite der Leitung. “Guten Tag, ich habe einen Herzinfarkt und muss sofort auf dieKantonsspital Notfallstation eingeliefert werden.” – “Versuchen Sie ruhig zu bleiben. Beschreiben Sie bitte ihre Symptome.” – “Ich bin ausser Atem, spüre eine ungeheuerliche Enge in meinem Brustkorb, ja ein Schmerz. Das ausströmen des Schmerzes in den linken Arm – typisch für Herzinfarkte – habe ich noch nicht festgestellt.” Dann fragt er noch: “Wie alt sind Sie?” “32”, antworte ich. “Es ist in diesem Alter eher unwahrscheinlich, dass Sie einen Herzinfarkt haben. – Wo befinden Sie sich gerade?” “An der Janusstrasse”, entgegne ich “auf der rechten Seite, wenn vom Stadtzentrum kommend, etwa auf der Höhe Ilgenweg.” – “Da im Moment alle Krankenwagen besetzt sind, warten Sie hier neben dem Telephon. Ich werde Sie innert Kürze auf diese Nummer zurückrufen.”

Ich begebe mich mit letzter Kraft wieder aus der Telefonzelle und laufe wie eine eingesperrte Raubkatze auf engstem Raum auf und ab. Autos, Busse fahren vorbei, Leute gehen an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Es schiesst mir durch den Kopf: Die Möglichkeit ist nicht auszuschliessen, dass sie mir auch im Spital nicht helfen können, dass ich jetzt unweigerlich sterbe. Ein Bild baut sich auf vor mir mit einer tiefen Schlucht und einer schmalen Brücke, die durch eine kleine Öffnung in einer teils durchsichtigen, teils festen Wand führt. Die Öffnung ist so klein, dass man durch sie nur liegend, bzw. robbend hindurchkommt. Ich bin noch auf dieser Seite. Ich mache mich darauf gefasst jetzt zu sterben: Ja, jetzt ist es soweit. So ist es also, wenn man stirbt, wenn man weiss, dass sich das Leben gerade jetzt zu Ende neigt. Um mich nicht zu überanstrengen und auch, weil ja alles ohnehin keinen Sinn mehr hat, lege ich mich seitlich auf den Gehsteig, mein Kopf auf meine rechte Hand gestützt. Autos kriechen die Strasse herauf oder gleiten hinunter. Sie sind ganz weit weg, ich sehe sie nicht mehr. Eine ältere Frau, die eine scheinbar schwere Einkaufstasche trägt, läuft an mir vorbei, schaut mich schnell an. Was geht ihr wohl gerade durch den Kopf, als sie an diesem jungen Mann vorbeiläuft, der einfach am helllichten Tag, ohne dass er betrunken scheint, auf dem Trottoir liegt? Sie geht an mir vorüber. Sie fragt nicht, wie es mir gehe. Sie hat wohl Angst.

Ich liege auf der kleinen Brücke über der tiefen Schlucht, schon näher an die Nadelöhr ähnliche Öffnung hingeschoben. Meine Welt ist ganz und gar nur noch diese Öffnung und kreist um die Frage, wie es wohl sei, wenn ich da hindurchschlüpfe. Ich habe grosse Angst. Eine Zukunft gibt es nicht mehr, keine Träume mehr, nichts mehr von dem, was ich gerne erreicht hätte, werde ich noch erreichen können. Ich zittere, mir ist kalt, das Rauschen der vorbeirasenden Autos kommt mir vor, wie ein Dröhnen aus einer anderen Welt, aus einer Welt, zu der ich nicht mehr gehöre.

Das Klingeln aus der Telefonzelle zerrt mich plötzlich aus meiner Nahtodeswelt zurück in die Realität. Ich springe in die Telefonzelle und nehme den schwarzen Hörer mit meinen schweissgebadeten Händen an mein Ohr. Die gleiche Stimme von vorhin meldet sich: “Ein Krankenwagen ist zu ihnen unterwegs und wird in etwa 5 Minuten bei Ihnen sein. Versuchen Sie, ruhig zu bleiben, Hilfe ist innert Kürze bei Ihnen.”. – Oje, es ist also wirklich ernst. Sie kommen mich mit dem Krankenwagen abholen. In weiter Ferne höre ich schon eine Sirene…

Als das Krankenauto ankam, ging alles ganz schnell. Ich wurde auf die Fahrtrage gebunden und in einem Ruck in den Wagen geschoben. Autos fuhren langsamer, Fussgänger blieben stehen, um ja kein Detail zu verpassen von dem, was hier vorging. Die Notfallärztin legte sofort eine Infusion und verabreichte mir damit ein Beruhigungsmittel. Auch eine Sauerstoffmaske wurde mir angelegt. Die Anwesenheit der Ärztin und ihres Assistenten wirkte auf mich etwas beruhigend (vielleicht war das aber auch die Wirkung der Tranquilizer, die nach und nach einsetzte). Mein Brustkorb fühlte sich nicht mehr so verengt an, ich fing an, mich etwas zu entspannen. Während ich der Ärztin Auskunft gab über meine Symptome usw., machte ich mir allerlei Vorstellungen, wo sich zur Zeit der Krankenwagen befinde und was danach alles auf mich zukommen würde, z.B. eine Notfalloperation. Vor Operationen habe ich mich schon immer sehr gefürchtet. Ich mag es nicht, wenn ich die Kontrolle verliere, wenn ich einschlafe, ohne dass ich es wirklich möchte. Während diesem Gedanken zuckte erneut ein Adrenalinstoss durch meinen Körper, ein heisser Schauer, auf den verlässlich immer eine schlagartige Beschleunigung des Herzschlages folgte. Ich hasste dieses Gefühl, und es bestätigte mir wieder, dass mit meinem Herzen etwas nicht in Ordnung ist. Die Angst, die mich langsam von hinten wieder in den Würgegriff nahm, drückte aus mir mit zittriger und dünner Stimme die Frage heraus: “Was kommt denn jetzt alles auf mich zu?” Die Ärztin erklärte, dass zuerst noch einige Tests gemacht werden müssten, auch eine Röntgenaufnahme der Herzkranzgefässe, eine sog. Angiografie. Das Elektrokardiogramm (EKG) sehe bislang unauffällig auf. Sie sehe da ein paar Extrasystolen – ein Herzschlag ausserhalb des normalen Herzrhythmus, gefolgt von einer kurzen Pause, nach welcher der normale Rhythmus wieder einsetzt -, die aber durch meine Aufregung erklärbar seien und sich im normalen Rahmen bewegen würden. Mit anderen Worten, sie könne mir jetzt noch nicht sagen, welches nach den Tests die weiteren Schritte sein würden. Es sehe aber im Moment vielversprechend aus.

Während mich die Ärztin immer noch über den Hergang meiner Beschwerden befragte, den ich etwa so beschrieb wie oben, in etwas gekürzter Fassung natürlich – z.B. ohne den vielbeschäftigten Autofahrer zu erwähnen –, hielt der Wagen plötzlich an, der Motor ging aus, die Tür wurde schlagartig geöffnet. Ich wurde auf der Fahrtrage aus dem Wagen gerissen; Menschen in weissen Kitteln, Türen, Leuchtstoffröhren an der Decke und Anschlagbretter huschten an mir vorbei. Die Fahrt nahm ihr Ende in einem Zimmer, das wegen der vielen Apparaturen aus einem Science Fiction Film hätte sein können: Bildschirme, überall Kabel, Anschlüsse, Tastaturen, Sauerstoffflaschen usw. Ich wurde gefragt, wie ich mich fühlte, während neue EKG Elektroden auf mir platziert wurden und sich die Kälte des elektrisch leitenden Gels bemerkbar machte. Ich beschrieb, dass die Spannung in meinem Brustkorb etwas nachgelassen habe, und erwähnte dabei, dass ich davor Angst hätte, jetzt sterben zu müssen. Die Ärztin versuchte, mich zu beruhigen und betonte erneut, dass mein Zustand ganz gut aussehe. Dabei berührte sie meine Hand, behutsam und nur ganz kurz, und ich bemerkte plötzlich, dass sie eine hübsche junge Frau war mit dunkelbraunem, leicht gewelltem, zusammengebundenem, wohl etwa schulterlangem Haar. Sie trug eine breitrandige, violette Brille, die ihre dunklen, braunen Augen, die mich einfühlsam ansahen, etwas vergrösserten.

Es wurden weitere Tests durchgeführt, und während dem Warten auf die Resultate, wurde ich von einer erfahrenen Krankenschwester, bzw. Pflegefachfrau, wie man heute sagen sollte, betreut. Meine Angst verebbte zusehends. Ich traue es mich fast nicht zu sagen, doch ich genoss mehr und mehr die Aufmerksamkeit, die meiner Person entgegengebracht wurde, vor allem die Aufmerksamkeit der Frauen, die in meinem Alltagsleben spärlich gesät, ja inexistent war. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sich die Ärztin zusammen mit dem Chefarzt, da ich halbprivat versichert war, und dem Assistenten vor mir aufstellte. Die Ärztin, die sozusagen federführend war, erklärte mir, sie können aufgrund des Angiogramms und des EKGs sagen, dass mit meinem Herzen alles in bester Ordnung sei. Die von mir beschriebenen Symptome, fiel der Chefarzt ihr ins Wort, seien die Folgen einer ganz normalen Angstreaktion, es bestehe kein Grund zur Sorge. Ich solle generell versuchen, den Stress in meinem Alltag zu verringern, mich mehr zu entspannen und mir weniger aufzubürden…

***

Die Verabredung mit Felix fiel ins Wasser. Er wartete fast eine Stunde auf mich am Marktplatz vor dem Kinoeingang. Vergebens. Er dachte mir sei etwas dazwischen gekommen, alles halb so schlimm. Ich erzählte ihm in den Grundzügen, was mir widerfahren ist. Obwohl er alles verstand, konnte er natürlich nichts wirklich verstehen, weil das nur dann geht, wenn man selbst schon einmal so etwas erlebt hat.

Seit fünf Minuten bin ich wieder zu hause. Meine Wohnung kommt mir unheimlich vor, anders als zuvor. Die Welt ist wie ausgewechselt; ich bin wie ausgewechselt. Meine Katzen erwarteten mich hinter der Tür schon. Sie warten immer so nahe hinter der Tür, dass ich sie kaum aufbringe, ohne dass eine von ihnen ihre Pfoten fast einklemmt. Sie hatten Hunger. Ich stellte ihnen etwas Futter hin. Sie stürzten sich darauf, das Weibchen zuerst, dann das Männchen. Auch jetzt höre ich sie immer noch schmatzen und würgen.

Nach dem ich meine Kleider ausgezogen habe und in meinen Sportanzug gestiegen bin, lege ich mich aufs Bett und versuche, mich etwas zu entspannen. Auf dem Rücken liegend richtet sich mein Blick zum Fenster. Die Sicht aus dem Fenster ist durch den schräg gestellten Rollladen in etwa dreissig horizontale Stücke zerschnitten. Ich habe das Gefühl, dass zwischen dem Bild auf meiner Retina und meinem Inneren neuerdings nochmals ein Rolladen besteht, der das Wahrgenommene weiter bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt.

***

Als ich meine Augen wieder öffnete, wusste ich zunächst nicht, wo ich war. Es war dunkel. Ich drehte mich zur linken Seite, wo die Dunkelheit durch rot leuchtende Zahlen der Digitalanzeige meines Radioweckers durchschnitten wurde. Ich habe wohl etwa drei Stunden geschlafen. Es war 21:07. Der Doppelpunkt zwischen den Stunden und Minuten blinkte. Ich wartete gespannt auf den Moment, in welchem die Sieben in eine Acht übergehen würde. Es war still. Dann hörte ich Schritte in der Wohnung oberhalb. Dann wieder Stille. Jetzt. Diese einzigartige Minute 21:07 am 7. Oktober 2009 war vorbei. Für immer, unwiderruflich. Ohne hinzuschauen, versuchte ich innerlich die Sekunden zu zählen, versuchte eine Minute genau abzumessen, wollte wissen wie gut mein Zeitgefühl war. Als ich wieder hinschaute, war es schon 21:09. Ich hatte den Wechsel verpasst, ich war zu langsam.

Das war vor einer Minute. Die Zeit gleitet mir wie Sand durch die Finger. Jetzt ist es 21:10. Immer wieder wird die Stille durchbrochen, durchlöchert durch Autos, die die steile Strasse vor dem Haus hochkriechen. Ich liege auf der Seite, mein linkes Ohr mit dem Gewicht meines Kopfes auf das Kissen gedrückt. Ich vernehme ein rhythmisches Pochen, das dumpf wie durch Watte von weit her in mein Bewusstsein dringt. Manchmal scheint es so, als ob dieses Pochen durch den roten Doppelpunkt dirigiert wird, der im Sekundentakt erscheint und wieder erlischt, erscheint und wieder erlischt. Im nächsten Augenblick formieren sich die Zahlen zu 21:11. Das dumpfe Pochen löst sich aus dem Sekundenrhythmus, wird schneller, lauter. Was passiert nur mit mir? Mein Hals schnürt sich immer mehr zu, ich bekomme fast keine Luft mehr. Ich muss aufstehen…

Mit einem Ruck sprang ich aus dem Bett und tastete mich zum Türrahmen neben welchem sich der Lichtschalter befand. Ich zündete das Licht an. Das Licht der Energiesparlampe wurde langsam heller, bis es die endgültige Helligkeit erreicht hatte. Der Gedankenstrudel um die vergehende Zeit löste sich langsam auf. Während mein Blick entlang aller vier Wände meines Schlafzimmers glitt, stellte sich immer vorherrschender ein Gefühl der Normalität ein, so in etwa: Es ist ja alles wie immer, keine Sorge, du hast noch viel Zeit, praktisch unendlich viel Zeit. Ich fühlte mich etwas besser. Ich ging ins Badezimmer, wo ich mit meinen Händen kaltes Wasser auf mein Gesicht goss. Die Kälte war angenehm, es breitete sich in Wellen ein Gefühl der Entspannung in meinem Körper aus. Ich schaute in den Spiegel, ohne es bewusst zu wollen. Als ich den anderen auf der gegenüberliegenden Seite des Spiegels anblickte, senkte ich meinen Blick sofort wieder. Er sah so aus, als ob er mir gerade eine Frage stellen wollte.

Die Luft in meiner Wohnung war schwanger, unerträglich dick. Die Sonne hatte die Wohnung aufgewärmt, während ich ein paar hundert Meter entfernt mit dem Tod gerungen hatte. Ich ging zum Fenster meines Schlafzimmers, welches gegenüber der Tür zum Badezimmer lag, von wo aus ich jetzt gerade kam. Ich öffnete das Fenster und merkte, dass es zu regnen angefangen hatte; ein angenehmes frisches Lüftchen strich über meinen rechten Arm. Ich löschte das Licht aus und sah durch die Spalten der schräg gestellten Jalousien auf die Strasse, die durch die Nässe pechschwarz im gelblichen Lichte der Strassenlampen glänzte.

Ich setzte mich auf den Bettrand, fuhr mit meinen Fingerspitzen über meine Armen und spürte mit meinen Füssen die kühlen Luftschwaden, die sich durch das offene Fenster in mein Schlafzimmer hineingossen und am Boden ausbreiteten. Meine Hände waren plötzlich ganz anders, ganz unwirklich. Ich war erstaunt, dass ich sie bewegen konnte. Ich nahm mir vor, sie zur Faust zu ballen – sie folgten meinem Willen, ohne zu zögern. Ich strich mit ihnen über mein Gesicht: Sie spürten die vom Gesicht ausgestrahlte Wärme; mein Gesicht war wie elektrisiert durch die Wärme, ja Hitze, die von meinen Händen auströmte. Die Handflächen fingen immer mehr an zu kribbeln, die Haut fühlte sich plötzich dick an, Berührungen machten sich nur noch durch aufflammende Kribbelherde bemerkbar. Die graue Nacht, die durch die Jalousienspalten hereinschlich, saugte mich in einen Spiralentanz, der mich in eine immer fernere Welt drehte. Plötzlich stolperte mein Herz, panische Angst ergriff meinen Körper, legte ihn in Ketten, zog mich hinunter. Wieder schnellte ich auf, tastete mich zum Lichtschalter vor, machte das Licht an. Es war alles verändert. Die Wände starrten mir entgegen, Schicksal verströmten sie mit jedem Atemzug. Ein Kratzgeräusch schob sich zwischen diese veränderte Welt und mich; ich liess meine Katzen ins Schlafzimmer und entschied mich jetzt endlich, eine Tablette Alprazolam zu nehmen, ein vorzügliches Beruhigungsmittel, das man mir im Kantonsspital noch mitgegeben hat, und hoffte, dass ich mich jetzt endlich beruhigen würde…

(verfasst am 18. August 2009)