Weltenschicksal

Es ist ein lauer Abend, nach dem ersten, warmen Tag einer Schlechtwetterperiode. Der Verkehr auf der Strasse vor dem Haus ist spärlicher geworden – hin und wieder durchbricht das brausende Getöse eines Motorrades die Stille der Nacht. Nicht dass es ganz still wäre, nein, den Herzschlag der Stadt und das ununterbrochene, leise und zärtliche Rauschen ihres Blutes umhüllen die Nacht. Es ist heute das erste Mal, dass ich auf dem Balkon gelesen und einen taiwanesischen Tee zu mir genommen habe. Ich schloss eine der Zimmerlampen einem Verlängerungskabel an, so dass sie mir auf dem Balkon für das Lesen Licht spenden konnte. Immer wieder, nach dem ich einige Abschnitte gelesen hatte, löschte ich das Licht aus und lies meinen Blick über die nächtlich beleuchteten Hausdächer gleiten, bis er seine Aufmerksamkeit ganz dem Sichelmond zugewendet hat, welcher, wegen dem nebligen Dunst, der sich über der Stadt ausgebreitet hatte, einen milchigen Schleier um sich hatte.

Die Luft war leicht und frisch, mit vielen Blumendüften durchwoben, die mein Herz ganz im innersten berührten, so dass mir ein Schauer den Rücken hinunter fuhr. Der bittersüsse Schmerz alter Verliebtheiten stieg wie rosige Düfte von meiner tiefsten Seele ins Bewusstsein. Es war wieder ganz wie damals im Gymnasium. Während diesen fast fünf Jahren war ich eigentlich ununterbrochen verliebt. Die Liebe blieb unerwidert, obwohl sie einmal kurz vor der Schwelle der Gegenseitigkeit war, ich aber den Schmerz der unerwiderten Liebe mit einer süssen Hoffnung, der Möglichkeit, abgewiesen zu werden, vorzog. Nicht nur in diesem Falle, sondern bei allen anderen Mädchen, die ich liebte, war es gleich: Ich wurde vor ihnen unnötig schüchtern, vergrösserte meinen Abstand zu ihnen und gab mich ihnen gegenüber kalt, obwohl ich innerlich vor Sehnsucht gerade ihnen Wärme zeigen wollte und mich so nahe wie möglich bei ihnen aufhalten, ja sie umarmen und küssen wollte.

Nachdem ich von meinen Gedanken fortgetragen wurde, empfand ich plötzlich die Schwerkraft, die mich gegen den Sessel drückte und wurde der Berührungsfläche gewahr, die den Betonboden und meine Füsse verband. Ohne den Sessel und den Boden aus dem Bewusstsein zu verlieren, wie es im stumpfen Alltagsbewusstsein allzu gern geschieht, empfand ich auch das ganze Haus, die Bäume auf dem Vorplatz, die mir mit ihren im Wind wippenden Ästen vertraut zuwinkten, wie es alte Freunde zu tun pflegen, wenn sie sich nach Jahren wiedersehen. Ganz berauscht war ich von den Regungen und alles schien verklärt, die Nacht und die in sie hineinragenden Gebäude nahmen urplötzlich eine feierliche Wirklichkeit an, sie rückten zusammen und ich fühlte mich mit ihnen in schauriger Art und Weise verbunden und vereint, bewusst, dass wir von der selben Welt sind und wir alle ihr Schicksal teilen – die Geburt, die Blüte, den Verfall und den Tod. Dieses plötzliche Angesprochenwerden aus der tiefe des Weltaugenblicks durchströmte mich in kräftigen Wellen, Angst und Freude vermischten sich zu einem innigen Einverständnis. Die hintersten Winkel meiner Seele und meines Wesens waren eingehüllt in diese weiche Klarheit, die in nur denkbar grösstem Kontrast zu meinem verschleierten und milchigen Alltagsempfinden stand und nur da und dort nach einem berührenden Film im Kino in ähnlicher Weise eintritt.

Schon oft ist mir aufgefallen, dass ein Duft noch viel treffender wie eine Farbe oder ein Ort vergangene, längst vergessene Gefühle und Gegebenheiten in ihrer Ganzheit wieder aus dem Schlummer wach zaubert. Ein solches Gefühl kann nur mit Analogie beschrieben werden und auch dann nur als eine Summe von Einzelheiten, die zusammen nicht einmal den Schatten der Geschehnisse wiedergeben vermögen. Durch die Sprache wird das Gefühl in einen wunderlichen Stoff umgeformt, der das Gefühl selbst keineswegs mehr ist, ihm nicht einmal mehr gleicht, sondern ein vollkommenes Eigenleben führt, das je nach Zusammentreffen und Vermischen im Spiegel der Seele des Lesers in ganz neue Bahnen gelenkt und unvorhergesehene Netze eingesponnen wird, die der Schreibende in keiner Weise vorsehen noch erahnen kann. Das geschriebene Wort kann nur auf den Tonarten und Tasten spielen, die beim Leser vorhanden sind; es kann aber auch viel mehr, es kann Lieder erklingen lassen, die noch nie zuvor in dieser Harmonie und Tonfolge im Universum erklungen sind. Das Wort, auf dem Papiere allgemein und abstrakt, wird zum Leben erweckt, regt die Seele des Lesers auf einmalige und schicksalhafte Weise. Das Wesen des Gesagten, wenn es in der Wahrheit geschrieben wurde, spricht, auch wenn in unendlich vielen Sprachen und Klangfarben, auch wenn auf mannigfaltig unterschiedliche Weise betont, immer die gleiche Sprache, es sagt immer das gleiche, es stammelt, das was von allen wahrhaftigen Menschen zu allen Zeiten gestammelt geworden ist. Hier zu sagen, was dieses Wesen ist, was denn gesagt werde, wäre gerade zu töricht, denn es lässt sich selbst nicht sagen, doch es wird nichts wahrhaftiges gesagt, ohne dass das Wesen mitgesprochen wird.

Oben versuchte ich die Essenz, dieses meines Erlebnisses aufzuzeigen, das ich an diesem Abend auf dem Balkon hatte, diesen Anflug eines mit Nostalgie und Wehmut, aber auch mit süsser Lust gemischten Gefühls, eines Bewusstseins der Einmaligkeit dieses Augenblicks, einer plötzlichen Einsicht in das Ganze und das Weltenschicksal. Es ist mir nur leidlich gelungen, doch wohl habe ich es so gut ausgedrückt, wie es mir im Moment möglich ist.

(verfasst am 9. Juni 2003)