Ein Gespräch mit einem älteren Pastor (Juni 2003)

Dieses Wochenende zeigte einige interessante Dinge. Es war reich an Begegnungen und interessanten Diskussionen, obwohl ich den Eindruck hatte, dass ich ein bisschen zu ausschweifend und viel geredet habe. Obwohl die Menschen interessiert zuhörten, könnte das doch wohl eine Geste des Anstands gewesen sein. Doch glaube ich nicht, dass ich die Zeit dieser Menschen verschwendet habe.

Wir gingen mit Joy und ihrem Bruder zu einer Hütte in den Hügeln von West Virginia, die von der christlichen Religionsgemeinschaft besitzt wird, derer Joys Bruder angehört. Beide, Melody und ich, waren ziemlich unwillig, dorthin zu gehen. Nach einer sechs bis siebenstündigen Autofahrt sind wir dann dort endlich angekommen. Mein Gefühl war ein bisschen mulmig, wie immer, wenn es darum geht, einige Leute auf einmal zu begrüssen und kennenzulernen.

Wir traten dann ein und nach einer Weile machte ich den Anfang und stellte mich allen vor. Interessanterweise konnte ich die Namen von allen behalten, als ich sie im stillen noch zwei bis drei Male repetiert habe. […]

Als Eduart und ich am Abend mit Ben anfingen darüber zu sprechen, was wir im nächsten Tag machen sollten, verschob sich das Gespräch plötzlich zur Reformation, der lutheranischen, der zwinglianischen und calvinistischen Kirche und was denn die Täufer davon unterscheidet. Zuvor wollte ich das Gespräch eigentlich im Sand verlaufen lassen, denn die Optionen habe ich gehört, die wir hatten, um eine Wanderung zu machen. Lieber wollte ich mich mit Melody, Eduart und Joy in die andere Hütte zurückziehen, damit wir unsere Ruhe haben können. Doch die unvorhergesehene Verschiebung des Gesprächs zur Religion, erweckte ein grosses Interesse von mir, auch daher, weil ich sehr interessiert war, was ein so alter Pastor über diese Themata zu sagen hatte. Als wir nach einer Weile mit Eduart an den Küchentisch gesessen sind, geriet das Gespräch ins politische. Nun, in diesem Moment war es ein Monolog, an dem mein einziger Beitrag ein verhaltenes Gestikulieren war. Ich stand dann auf, unter dem Vorwand, Melody etwas zu fragen, denn sie waren gerade dabei, Kaffee zu machen. Der Pastor leitete dann aber ein neues Gespräch ein, in dem er sich danach erkundigte, was ich denn im Moment studiere, ob ich in Graduate School bin oder nicht.

Dann fing ich an über Psychologie zu reden, und dass ich herausgefunden habe, dass meine Fragen eben dort nicht beantwortet werden können. Dann sprachen wir über die Wissenschaften, den Glauben und er eröffnete mir, dass er auch Psychologie studierte, also Psychotherapeut und Pastor war; er studierte in Richtung theologische Psychologie, fand dann aber heraus, dass man nicht beides Psychotherapeut und Pastor sein kann. Er entschied sich ein Pastor zu sein. Das Gespräch war sehr interessant und sehr aufschlussreich. Er nahm mich sehr ernst, was mich sehr geehrt hat.

Beide hatten wir vieles zu sagen. Etwas interessantes sprach er aus, was ich auch schon bei Hesse gefunden habe, nämlich, dass unser Einfluss auf andere Menschen sehr gering ist, wenn er denn überhaupt existiert. Er habe schon tausend Male über die Geschichte von Jonas gepredigt, doch es habe wohl noch in niemandem etwas bewirkt. Dieser Realismus, diese Offenheit, ja diese Bescheidenheit und Demut hat mich sehr beeindruckt. Auch wenn man nichts bewirken kann, muss man es doch versuchen, denn vielleicht bewirkt man doch etwas, auch wenn man nur in einem Menschen dem Glauben nachhelfen kann, dass es das echte Menschentum eben doch noch gibt. Die Folgerung war dann, dass wir den meisten Einfluss auf uns selbst haben, auch wenn dort der Einfluss gering ist. Dann unsere nächsten, wie unsere Frau und unsere Kinder. Die Kindererziehung ist unsere wichtigste Lebensaufgabe. Da sind die Kinder noch aufnahmefähig, da kann man etwas gutes bewirken, wenn man selbst in gutes Vorbild ist.

Man kann und darf andere Menschen nicht verändern wollen, doch kann man von der Wahrheit predigen und hoffen, dass sie jemand hört. Ist es auch das Unmögliche, wir können es nicht unversucht lassen, wenn es unsere Berufung ist, Pastor zu werden. Das selbe trifft auch zu auf jede andere Stelle, die wir auf dieser Welt einnehmen können. Was er sagte, deckte sich absolut mit Bubers Lehre. Auch er kenne Buber. Es trifft auch genau das, was Hesse sagte, wofür er gelebt hat. Es war eine schöne Begegnung; wir waren einander zugewandt, er der mir um einige Jahrzehnte voraus seiende Pastor und ich, der junge, noch optimistische Geist, der aber schon einiges verstanden hat, im Geiste, was der ältere am eigenen Leibe erfahren hat. Es war sehr bereichernd und belehrend. Am schönsten war die Demut. Es würde zu weit führen, hier alles nieder zu schreiben, was gesagt geworden ist. Doch in meinem Herzen ist jedes Wort immer noch und wird es immer sein. Dennoch muss ich noch anfügen, dass wir auch darüber gesprochen haben, dass das Leben unergründbar ist und das wir nicht zu viel von unseren heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu halten, denn über diese wird die Zukunft lachen. Die heutige Moderne ist die Antike der Zukunft. Das wird immer so sein, das ist auch in unserem Leben so. Im Moment bin ich überzeugt, dass ich meine Auffassung nie mehr ändern werde, dass es jetzt das richtige ist. Es soll auch jetzt das richtige sein, doch schon morgen ist die Auffassung ein bisschen modifiziert. Das ist gut so, das ist die Wandlung, das ist das Leben. Doch das Leben selbst wird immer das gleiche sein, das Geheimnis, dass wir nur von uns selbst erfahren können, was wir zu tun haben, dass eben gerade dort gebraucht werden und tätig werden sollen, wo wir hingestellt worden sind. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse haben uns dabei nicht weitergeholfen. Die Wissenschaft ist eine menschliche Notwendigkeit, obwohl sie für mich es nicht ist, doch aber für den ernsthaften Wissenschaftler, dessen Berufung es ist, der Wissenschaft zu dienen, ihr im Namen von Gott zu dienen, denn wir müssen Gott dienen, wem immer wir auch sonst dienen. Doch in der Wissenschaft selbst ist das Geheimnis nicht, doch aber im Werk des hingebungsvollen Wissenschaftler. So sind auch meine Schriften eben nicht das Geheimnis, denn das Geheimnis steckt im Vorgang des Schreibens. Doch das Geheimnis kann aus dem Text wieder auferstehen, wenn es nämlich beim hingebungsvollen Lesen zwischen dem Buch und dem Leser, bzw. zwischen mir und dem Leser wieder aufersteht. Ich sprach dann auch davon, dass sogar in den einfachsten und klarsten Wissenschaften wie die Physik, dort sogar die einfachste Tatsache des Kugelstosses, der Ursache und Wirkung, völlig ein Wunder und Mysterium ist. Wir nennen es Ursache und Wirkung und dass es die Kausalität ist, die beide verbindet. Doch anstatt Kausalität kann man auch Gott sagen oder Schöpfung oder Geheimnis. Wenn der wissenschaftliche Apparat darüber auch noch so gross ist, ist eben es doch das Geheimnis, worauf er baut und welches durch ihn nicht erschlossen werden kann, weil dieser Bau ja darauf steht. Ist man sich das in der Wissenschaft bewusst, dann ist die Wissenschaft für den gut, dessen Berufung es ist, Wissenschaft zu betreiben. Das Geheimnis liegt nur ihm gelebtem Leben, im Dienste am Leben, d.h. in der Wahrheit, der Liebe, in der Begegnung, im schicksalhaften Weltaugenblick.

Das alles fand ich in diesem Menschen bestätigt. Und ich war überrascht, denn als er vom Wandern sprach war er sehr schüchtern und nicht selbstsicher, schütze mit der Hand sein Gesicht, führte ein Mienenspiel vor, das fast nur den Grund haben konnte, das wirkliche Befinden zu verstecken. Auch in der nachträglichen Diskussion gab es solche Momente, doch aber auch Momente des kalten Hasses gegenüber den Reichen und Präsident Bush, die nur kriegen des Geldes wegen. Ich bin der gleichen Auffassung, hasse aber diese Menschen dennoch nicht, verurteile sie nicht. Für mich selbst wäre der Krieg nicht möglich, doch vielleicht ist der für Bush unabdingbar. Ich glaube es zwar nicht, doch ich kann es nicht so gut wissen, als dass ich ein Urteil sprechen könnte. Würde er selbst das Gewehr in die Hand nehmen und in den Kampf gehen, dann würde ich es ernst nehmen, so aber nicht. Den Ansichten des Pastors konnte ich nur zustimmen und er stimmte auch meiner Hypothese zu, dass man dann, wenn man wirklich auf die innere Stimme hört, man nur allzu gut weiss, was richtig und was falsch ist.

Ja, das war ein anderer wichtiger Punkt des Gesprächs: Er sagte, die Wendung kommt nicht vom Gefühl, denn mit diesem spielen die Medien und Machtinhaber. Da ist genau das auch, was Buber über das Gefühl gesagt hat. Doch es ist so, dass wenn man den Verstand benutzt sich auch das Gefühl verändert und eine Klarheit gewinnt, in der man klar weiss, was für EINEM richtig oder falsch ist. Auf das Gefühl allein ist kein Verlass, doch auf das Gefühl, dass sich zum Verstand gesellt, das also ein Spiegel der Seele ist, kann man bauen. Den Verstand zu benutzten heisst, selbst hinschauen, mit den eigenen Augen und nicht auf andere zu hören. Dann kennt man auch das authentische Gefühl, wird von ihm nicht getäuscht. Wenn also Seele, Verstand und Gefühl eine Einheit bilden, dann ist man ganz Person. Wir verwirklichen unsere Seele, wir lassen sie Wirklichkeit werden oder in dieser wirken. Dazu braucht es einen klaren Verstand, einen Willen und Mut.

Ich hatte dann noch ein kurzes Gespräch mit Eduart und dann mit Joy. Dann gingen wir zu Bett und ich schlief recht schlecht.

(verfasst am 16. Juni 2003 in Philadelphia)