Live-Situationen

Einer meiner ersten Texte, die ich auf dem Computer schön säuberlich abgelegt habe, handelt von sogenannten Live-Situationen. Das ist ein Wort, das mir von Michael am 29. August 1998 entgegen getragen worden ist. Das Wort «live» heisst im Musikbusiness, dem er selbst ja angehört, auf der Bühne sein, vor vielen Menschen Musik zu machen, ohne dass man die Sicherheit eines Playbacks hätte. Jeder hat in seinem Leben schon solche Auftritte gehabt, wenn nicht als Musiker, dann als Primarschüler in einem Krippenspiel oder etwas ähnlichem. Ich hatte einmal einen richtigen Live-Auftritt bei der Neueinweihung der Aula der Musikschule. Dann noch einen kleinen im Tennisclub. Ebenso spielte ich hin und wieder an Geburtstagen auf dem Keyboard des Alleinunterhalters, einmal holten wir sogar noch meine Gitarre von zuhause, wo ich dann mit dem Alleinunterhalter zusammen Blues gespielt habe. Ja, ich hatte schon ein paar solcher Erlebnisse.

Einem weiteren Erlebnis, dass ich im Sommer 2002 hatte, als ich einen Monat in der Schweiz verweilte, möchte ich hier ein bisschen ausführlicher niederschreiben, im Bewusstsein, dass ich damit vom roten Faden abweiche, denn ich wollte ja hier etwas über Live-Situationen schreiben, was ich auch weiter tun werde, doch ich kann es nicht tun, ohne dass ich Zeugnis von diesem speziellen Erlebnis abgelegt habe.

Eines Abends ruf mich Roman an und fragte, ob ich auch zu den drei Weihern kommen wolle und ob ich nicht auch noch meine akustische Gitarre mitnehmen könne. Er teilte mir dann auch mit, dass noch ein paar andere seiner Bekannten und Freunde kommen würden. In diesem Moment hatte ich ein bisschen ein mulmiges Gefühl im Bauch und eine leise Vorahnung, dass ich wohl vor all diesen Leuten etwas spielen müsse. Roman hat mich dann abgeholt mit dem Auto seiner Mutter. Als wir oben bei den Weihern angekommen waren, wartete seine Freundin schon auf ihn. Ich fühlte mich sehr offen und kam mit ihr in sehr informellen und direkten Kontakt. Wir sprachen miteinander, als ob wir uns schon seit Jahren kennen würden. Ich dachte mir, ja wenn ich denn schon vor all diesen Menschen etwas spielen sollte, dann ist ja das Reden mit ihnen noch ein leichtes Spiel. So liefen wir auf dem asphaltierten Weg, bis wir auf der Höhe des zweiten hölzernen Steges waren, wo wir dann einen kleinen Grashang hinuntersteigen mussten. Wir brachten auch ein bisschen Wein mit und Roman hatte auch noch etwas Gras dabei. Ich kann mich nicht erinnern, ob seine zwei Freunde und Pierre schon dort waren. Ich glaube, wir waren die ersten. Ich legte meine Gitarre auf den Steg und wir liessen uns nieder.

Es fing an einzudunkeln. Nun bin ich mir sicher, dass wir die ersten waren, denn seine Freunde habe ich nicht zu Gesicht bekommen, sondern nur aus der Dunkelheit gehört. Das war dann auch das interessante an der Situation. Wir hatten gute Gespräche und genossen den Abend. Ein bisschen später, als es eben schon stockfinster war, kamen zwei seiner Freunde und dann irgendwann auch noch Pierre (oder er kam mit den anderen zwei). Ich war wieder sehr offen zu diesen Menschen, die ich noch nie zuvor gesprochen hatte. Wohl werde ich sie auf dem Schulhof der Kantonsschule schon gesehen haben. Wir sprachen mit einander, witzelten. Die Gespräche waren sehr rückhaltlos, denn niemand konnte sein Gesicht verlieren, weil man das Gesicht ja nicht sah. Niemand konnte in die Augen des anderen Schauen, denn die Dunkelheit verschluckte alles. Wir tranken weiter und rauchten Gras. Bevor ich die Gitarre in die Hand nahm, mussten diese anderen Freunde schon wieder gehen. Was vielleicht etwa ein oder zwei Stunden später war. Es war ein sehr interessantes Erlebnis, dass man sich kennen lernte, miteinander sprach, doch aber sich nicht zu Gesicht bekam.

Als sie gegangen waren, fing ich dann an zu spielen. Da war nur noch Roman und seine Freundin. Sitzend hielt er sie in seinen Armen. Wir versuchten unsere alten Lieder zu rekonstruieren, was uns nur mässig gelang. Dennoch hatten wir viel Spass. Dann sassen wir dort, sprachen und auf einmal gesellte sich ein anderer zu uns. Er sass da, still, und wir musizierten weiter und plauderten. Nichts wussten wir von diesem Fremden, er war einfach da und horchte. Führer oder später kamen wir miteinander in ein Gespräch. Alles war sehr verzaubert und nicht von dieser Welt. Auch ihn konnten wir nicht sehen, kaum seinen Körperumriss erkennen. Es stellte sich dann heraus, dass er 18 oder 19-jährig war und Lieder schrieb, Rap Songs.

Wir baten ihn, etwas vorzutragen. Er entschuldigte sich aber schon zuvor und wollte sicherstellen, ob wir unsere Heimat gern haben, denn alle seine Texte huldigen und verehren diesen Ort. Ja, wer könnte diesen Ort noch mehr lieben, als ich es selbst tat! Er fing an zu rappen. Wunderschöne Rhythmen und Texte, die aus der Finsternis an unsere Ohren gelangten. Süss und ganz verklärt waren diese Momente.

Dann starteten wir ein Experiment. Er meinte, ich solle irgendetwas auf der Gitarre spielen und er werde dazu singen und einen Text aus dem Stegreif dichten. Wow! Ich wählte vier Akkorde aus, die ich dann in der selben Reihenfolge spielte, in einer Endlosschleife. Nicht nur rappen konnte er ausgezeichnet, nicht waren seine Texte nur sehr tief und gefühlvoll, nein, sogar singen konnte er sehr schön. Ich genoss diesen Moment. Wir machten Musik, der Fremde und ich, nicht sahen wir das Gesicht voneinander, doch so vertraut und so rückhaltlos, gerade eben weil es dunkel war, weil man nichts mehr zu verbergen hatte. Dazwischen sangen wir noch »Live Is Life» von Opus, auch Roman und seine Freundin sangen mit.

Es war sehr schön und bewegend, wir alle umhüllt von der Nacht, schon ein bisschen kühl, das Wasser des Weihers still um uns herum, dunkle Hänge und schattige Bäume. Danach sprach er noch einige seiner Texte, von denen er alle auswendig konnte und die alle ergreifende Binnenreime hatten und in ausserordentlichen Rhythmen und Figuren dichterische Hieroglyphen in den Raum zeichneten, die die Nacht gierig verschlang. Erst etwa in der Mitte unserer Begegnung erfuhren wir auch seinen Namen und er die unsrigen. Doch wir meinten, dass es keine Rolle spiele, die Namen, denn wir kennen unsere Gesichter nicht, wenn wir an einem Tag in der Stadt an einander vorbeigehen, werden wir nicht wissen, dass wir zusammen Lieder gedichtet und gespielt hatten. Die einzige Chance wäre, dass wir wieder dort mit der Gitarre wären und er zu uns stossen würde und fragte, ob wir nicht diese Fremden gewesen seien. Wer weiss, vielleicht passiert das mal. Es ist aber nicht wichtig.

Wir wussten, es würde eine einzigartige Begegnung sein, wir werden uns nie mehr wieder begegnen, auf diese Weise auf jeden Fall. Gerade diese Einmaligkeit machte die Begegnung noch feierlicher, noch deutlicher wurde uns die Vergänglichkeit, die Magie dieses Lebens, dass sich eigentlich nur in Augenblicken abspielt. So ging er nach einer Weile von dannen. Wir alle waren erfüllt von der Magie dieser Momente. Roman fuhr mich nachhause. Bevor ich ausstieg, noch im Auto, meinte ich: Begegnung ist alles! Es ist egal, wie man aussieht, welche Kleider man hat, welchem Stand man angehört. An diesem Abend hat man gesehen, was passiert, wenn man keine Vorurteile hat, weil man sich eben wegen der Dunkelheit nicht sehen konnte. Nie wäre alles so direkt und unmittelbar verlaufen, wäre es am Tageslicht geschehen, wären wir nüchtern gewesen. Das sind magische Weltaugenblicke, wie eigentlich jeder magisch wäre, nur wir selbst sind nicht immer magisch, nur wir selbst sind nicht immer offen für solche Live-Situationen.

Ja, das war so etwa mein Erlebnis. Es passierte noch viel mehr, doch das möchte ich nicht an dieser Stelle festhalten, obwohl es sein kann, dass dies die einzige Stelle sein wird, wo ich dieses Erlebnis verewige.

Sowie in der Musik der Bühnenauftritt ist jede andere Situation, in der man sich eben zeigt, wo man zu sich stehen muss, in der man keine Masken trägt, eine Live-Situation. Die Natur einer solcher Situation ist, dass man verletzbar ist, man kann scheitern, man könnte sich der Lächerlichkeit aussetzen. Deshalb hat man Lampenfieber, deshalb wagt man es im Alltag nicht. Auf der Bühne muss man dann halt eben, weil man den Auftritt angesagt hat. Doch im Alltag muss man nicht, es gibt keine Verpflichtung. Man muss sich selber den Stoss geben. Manchmal gibt es eine solche innere Kraft, wie zum Beispiel, wenn man verliebt ist, dann muss man einfach mit der geliebten Person in Kontakt kommen, auch wenn es unglaublich peinlich ist, auch wenn man dabei sehr verletzt werden kann, doch es ist einfach Notwendig.

Ist man sich bewusst, welche Magie eben in diesen Live-Situationen steckt, die genau das sind, was Martin Buber die Ich-Du-Welt bezeichnet, die rückhaltlose Begegnung zwischen Mensch und Mensch, das einzige, was Wirklichkeit ist, ist man sich auch bewusst, dass unser Fleisch schon bald von unseren Knochen herunterfällt und verwest, in unserem Mund und Händen schon bald Dreck und Erde ist, dann weiss man, was Notwendigkeit ist, dann weiss man dass es nur um die Wirklichkeit geht, dass es nur um die Live-Situationen geht. Hoffentlich sind eben diese Situation nicht nur einzelne Sterne an einem sonst schwarzen Nachthimmel, sondern bilden einen Weg von aneinander gereihten Wirklichkeiten, welcher der lebendige Weg ist. Ja, Wirklichkeit ist Magie, wenn wir sie in unser Herz lassen, wenn wir bereit sind, uns auf sie einzulassen. Ist man sich des Todes bewusst, dann weiss man sofort, dass es kein anderes Leben gibt, als das Leben in dieser Wirklichkeit. Weiss man von der Vergänglichkeit, dann hat man seinen Auftritt im Alltag plötzlich auch angesagt, man muss hingehen und sich ihm stellen. Im Angesicht des Todes wird alles plötzlich verbindlich. Ja, die Welt geht uns an, sie ist nicht nur ein Theaterspiel, dem wir als unbeteiligte Zuschauer beiwohnen und nur dann und wann einen aktiven Part übernehmen, wenn es gerade leicht fällt. Das ist nicht die Welt. Wir sind schon verantwortlich, nur weil wir da sind, da gibt es keine Ausrede. Wir sind schon schuldige, nur weil wir da sind. Wir sind Menschen, wir haben keine Wahl, wir müssen uns der Wirklichkeit stellen.

O Sprache der Wirklichkeit
So geheim, doch voller Offenheit
Nach dir ist unser Verlangen
Einen Zipfel noch, bevor du ganz vergangen

Geduldig bist du da, ewiger Augenblick
Rufst uns zu dir, mahnend, doch so lieb
Noch nicht! wegweisend unser Geschick
O Kindheit, du süsses Abendlied

Vergangenheit, du bist nicht mehr mein
In unserem Herzen wirst du ewig sein
Nun aber geh! Augenblick, ich hab Angst,
Doch komm zu mir, ich bin dein schon längst

Mein Herz ruft nach dir
Nur wir vergilben und vergehen
Du aber bist immer hier
Mit dir tanzen, in deine Augen will ich sehen

(verfasst am 3. Juli .2003)