Abendspaziergang

Etwa um halbsechs verliess ich das kleine Apartment des International House, in welchem ich nun seit eineinhalb Jahren wohne. Wenn immer ich herunterschreite, um das Haus zu verlassen, benütze ich das Treppenhaus, das in amerikanischen Bauten lediglich als Feuertreppe dient, aus Beton, grau in grau. Als ich mich vor dem Haupteingang befand, sah ich, wie tief die Sonne schon stand, sie war aber immer noch kräftig und der Himmel wolkenlos. Ich fühlte mich seltsam aufgewühlt, ja in erwartender Vorahnung, mit Hoffnung vermischt. Das sind die Tage, an denen sich alles wendet, nicht nur im Gefühl, sondern auch in der Tatsächlichkeit. Eine seltsame Unmittelbarkeit verband mich mit der Welt.

Als ich daran war den Vorplatz durch die Seite zu verlassen, kam mir eine Frau in den mittleren Jahren entgegen. Unsere Blick trafen sich. In solchen Situation sind wir Menschen geneigt, grad wieder wegzusehen. Wir geben vor, mit allen anderen Menschen nichts zu tun haben zu wollen, nichts zu tun haben zu müssen, weil wir über dem Menschlichen stehen. Diesmal sah ich nicht weg. An manchen Tagen aber, wenn ich innerlich nicht frei bin, wenn viele Schranken zwischen mir und der Welt stehen, dann versuche ich manchmal auch im Blick zu verharren. Doch dann verharre ich im Blick, trotz der Wände, in der Hoffnung diese zu durchbrechen. Meistens führt dies eher zu einem Starren, das so peinlich wird, dass ich mich dann doch wegwende. Dieser Frau sah ich nun in die Augen, nicht tief, aber doch Menschlich. Auch wenn man zur Begegnung bereit ist, muss auch der andere sich dafür öffnen. Viele Menschen wenden ihren Blick sogleich wieder ab. Diese Frau tat es aber nicht. In unserem Blickkontakt wurden wir uns in so kurzer Zeit vertraut, dass es plötzlich ganz natürlich schien, uns gegenseitig begrüssend mit dem Kopf zuzunicken. Manchmal führen solche Situationen auch zu einem Gespräch, einem Austausch von eins zwei Sätzen oder einfach zu einem Lächeln. Die letzte Form behagt mir besonders wohl, denn in einem Lächeln ist Nähe, aber auch Würde; das Eis ist dahingeschmolzen, da stehen wir nun also und berührten uns tief Menschlich. Ich muss zugeben, dass ich diese Begegnungsoffenheit vor allem dem weiblichen Geschlecht zuwende, und unter ihnen fast nur Asiatinnen, deren Schönheit mich von Tag zu Tag mehr verblüfft und beeindruckt. Dennoch weiss ich, diese Art von Begegnung im Blicke, zwischen beliebig zwei Menschen sich ereignen kann, wenn beide offen und Bereit dafür sind.

Es braucht Mut, sich zu öffnen, die Tore weit aufzutun und zu seinem Menschlichen zu stehen. Die Frau ging an mir vorüber, unsere Blicke trennten uns wieder. Es hat sich eine beachtliche Spannung in diesem Moment aufgebaut, die sich in einem freundlichen Zunicken entladen hatte. Noch nicht habe ich mich ganz soweit geöffnet, wie ich es gerne würde, doch es war ein würdiger Anfang, der mir Mut gemacht hat. Dieser erste menschliche Trumpf versetzte mich in ziemlich gute Laune, ich schritt langsamen Schrittes voran, was mir sonst sehr schwer fällt. Das bedächtige, langsame Gehen ist mir in letzter Zeit sehr fremd geworden, immer renne ich fast, wenn ich unterwegs bin.

Ich begab mich zum Fussgängerstreifen, der über die Chestnut Street führt. Ich hatte glück, denn das Lichtsignal wechselte zur gründen Farbe. Vorsicht ist dennoch geboten, weil in den Staaten die Autos beim Rotlicht rechts abbiegen dürfen. Teils im Schatten, teils in der Sonne lief ich an einer der markanten Studentenunterkünften der Pannsylvania Universität vorbei. Eigentlich wollte ich gradlinig weiter auf den gründen Teil des Campus gelangen, doch ich sehnte mich nach Menschen und Begegnung und auch nach Sonne. Kurz um schwenkte ich nach links und schlenderte die Sansom Street hinunter, kam am Hotel der Universität vorbei, vor dem immer ein Kommen und Gehen herrscht, passierte den Buchladen und lief weiter unter seinen grünen, Stoff imitierenden Vordächern, die bei Sonne dennoch einen Blick in die Schaufenster möglich machen sollten. Ein eigenartiges Spiel von Sonne und Schatten bot sich meinem Auge dar. Von hinten wurde ich warm am Rücken von der Abendsonne gestreichelt, die noch nicht viel an Stärke verloren hat. In den Schattenpartien war es aber schon sehr angenehm. Die Leute, die sich vor kurzer Zeit noch auf diesem Trottoir aufhielten, waren schon weitergegangen, ich schritt alleine meines Weges.

Um eine weitere Hausecke des Buchladens drehend, stand ich vor einem ansehnlichen Platze, der lieblich mit grau metalernen Tischen und Stühlen ausgestattet war, welche von vielen jungen Menschen beseelt waren. Dort finden sich die Studenten ein, nach der Schule oder einfach, um ihre Zeit zu vertreiben, um die Passanten zu beobachten, ja um wie ich ein paar flüchtige, aber intensive Begegnungen zu haben, um einen kleinen Flirt zu wagen oder gar unerwartet in ein Gespräch mit einem Fremden zu kommen. Der Platz war nicht so bevölkert, weil es noch ziemlich heiss war trotz des Abends. Ich blickte nicht in viele Gesichter, die meistens im Gespräch mit ihrem gegenüber vertieft waren.

Als ich diesen Platz vor dem Cosi Café passiert hatte, überquerte ich die Strasse und begab mich in Richtung Starbucks entlang der Walnut Street. Im Café angekommen bestellte ich einen Dopio, einen doppelten Expresso, mit dem ich auf den Campus der Universität ging, mich auf einer Bank niederliess und den wunderbaren Abend genoss. Ich zog das Hermann Hesse Buch aus meinem Rucksack, in dem ich dann einige Seiten las. Nicht wie sonst haben seine Zeilen mich gepackt, denn viel lieber schwelgte ich in der bangen Wehmut, in diesem hoffnungsvollen Weltabend, der den neuen Morgen, die Veränderungen und die Möglichkeiten schon erahnen lässt. Ich betrachtete Menschen, die vorbeigingen, die Bäume und das Lichterspiel, das die Sonne zwischen ihren Zweigen und Blättern bot. Ich schrieb einige Zeilen in mein Tagebuch, das ich mitgenommen habe, hielt meine Stimmung fest, die ein Gemisch aus Wehmut und Hoffnung war, aus Ahnung und Gewissheit. Alles würde sich heute wandeln und verändern, sich in einem neuen Licht zeigen, auferstehen von der Umnachtung des Alltags, heraustretend aus ihm in das wirkliche Leben, die Wirklichkeit.

Als ich meinen Expresso ausgetrunken hatte, machte ich mich auf den Weg auf der breiten Promenade, die wie ein Mosaik anmutete und durch eine Allee führte. Die Bäume schützten diesen Weg von der Abendsonne, die doch hier und dort golden durch die Äste schimmerte und wärmend auf meine Seele einwirkten. Plötzlich hatte ich die Idee, dass ich für meine Freundin einen kleinen Teddybären im Buchladen kaufen könnte. Mit diesem Ziel im Sinn wurden meine Schritte schon schneller, obwohl ich noch zu den Studentenwohnheimen der Undergraduates gelangen wollte, um dort im hübschen kleinen Park umzukehren. Das eine der drei Hochhäuser wird zurzeit renoviert. Ein Gewirr von Stahlstäben versperren den Eingang und stemmen sich empor bis zu den obersten Stockwerken des Gebäudes. Ich entschied mich, nach dieser Häusergruppe nach rechts abzubiegen, damit ich meine Schleife in diesem Park im Gegenuhzeigersinn ablaufen konnte.

Einige Meter vor dieser Verzweigung sah ich gerade aus eine wunderschöne, schwarz gekleidete junge Asiatin. Ihr kleid, aus dickem Stoff und in einem Stück gefertigt, liess ihre Schultern frei, wo man die Träger ihres schwarzen Büstenhalters sehen konnte. Der untere Teil des Kleides mündete in einen Jupe. Sofort entschied ich mich eben doch geradeaus zu gehen, um dieses herrlich schöne Geschöpf aus der Nähe betrachten zu können. Als sie noch weit weg war, getraute ich mich immer noch hinzusehen, ihr Gesicht zu betrachten, das mich sehr entzückte. Als sie näher kam, gab ich vor, irgendetwas anderes interessantes zu betrachten, einen Baum, ein andere Person. Doch nicht wirklich betrachtete ich etwas anderes, sondern war nur darauf bedacht, im Richtigen Moment, als sie nahe genug war, ihr in ihre traumhaften schwarzen Augen zu sehen. Ich durfte aber nicht zufrüh hinsehen, denn es wäre mir peinlich gewesen, den Blickkontakt zu lange aufrecht zu erhalten, bis sie an mir vorbei gegangen wäre. Nein ich wollte sie vom richtigen Moment an betrachten, so dass ich sie von der grössten Nähe sehen konnte, ohne dass es unverschämt lange gewesen wäre. Als ich dann meinen Blick von einem Baum oder sonst etwas löste, um ihr direkt in ihre schönen Augen zu sehen, blickte auch sie mich an, nur ganz kurz. Es ging mir ein Schauer den Rücken hinunter. Diese ausserordentliche hübsche Asiatin erweist mir diese Ehre, dass sie mich ansieht. Auch sie hat mich schon von weitem gesehen und hätte demonstrativ an mir vorbeischauen können, wie es viele Menschen tun, doch sie tat es nicht, auch sie wagte einen Blick. Zu kurz war unser Blickkontakt doch innig und schön, unvergesslich. Bevor ich in die Schleife einschwenkte, die mich nun im Uhrzeigersinn um den Park führen würde, sah ich mich nochmals nach ihr um. Sie war schon ziemlich weit weg, ich getraute mich auch nicht, lange zurückzuschauen, doch ihren freie Schultern elektrisierten mich noch einmal.

Etwa in der hälfte der Runde um ein Rasenfeld, auf dem ein paar Studenten Frisbee spielten, bog ich wieder in den Park und lief geradewegs wieder auf die Hauptpromenade zurück und mündete dort wieder in sie ein, wo ich die schwarz gekleidete Schönheit mit ihrem makellosen schwarzen Haar an mir vorbei laufen sah. Mit meinen Gedanken war ich schon weiter als mich plötzlich jemand von hinten ansprach. Ich drehte mich noch fast im gleichen Moment um und sah ein junges, sehr liebes asiatisches Mädchen im Sportanzug, das offenbar hier auf dem Campus ihre Runden läuft. Was für ein Glück! Sie machte mich darauf aufmerksam, dass mein Rucksack offen ist. Im ersten Moment verstand ich nicht, was sie meinte, doch dann wurde es mir klar. Ich sagte ihr vielen Dank, und wir beide lächelten uns an. Da sieht man, wie das Verbreiten von ein bisschen Liebe die Welt verändern kann. Es hat meine Welt verändert und auch ihre. Ich lief vergnügt weiter und sah ihr noch solange nach, als ich konnte. Über die Brücke geschritten, die über eine breite und stark befahrene Strasse führte, sah ich sie zum letzten mal schon in grosser Ferne.

So wie ich es mir vorgenommen hatte, lief ich nun zum Buchladen, wo ich meiner Freunden ein Stofftierchen kaufen wollte. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, so dass es schon fast wieder zu frisch war. Nach der Abendhitze draussen war es aber ganz angenehm. Ich begab mich auf schnellsten Weg in die Abteilung, wo die Stofftiere und ähnliche Souvenirs feilgeboten wurden. Da ich nichts neues dort sah, war ich ein bisschen enttäuscht und wollte schon mit leeren Händen nachhause gehen. Doch dann sah ich in einem anderen Abteil des Ladens ein kleiner, schwarzer Bär, und ich erinnerte mich sogleich, dass meine Freundin noch keinen solchen in dieser Farbe hatte. Ich beschloss diesen kleinen Liebling zu entführen und ging mit ihm zur Kasse. Ich kam gleich dran, denn es hatte nicht viele Leute zu diese Uhrzeit. Als ich das Geld herausnahm, wagte ich einen Blick zum Haupteingang des Buchladens und ich war innerlich tief bewegt, mein Herz pochte: Die schöne schwarz gekleidete Asiatin kam in diesem Augenblick in den Buchladen. Sie erkannte mich sogleich, doch aus Peinlichkeit, drehte ich mich schnell wieder weg, könnte aber in meinem Augenwinkel noch erkennen, dass sie mich anlächelt. Wäre ich zu meiner Menschlichkeit gestanden, hätte ich eine innige Begegnung haben können, doch ich schämte mich darüber, dass ich diese Frau mir sehr gefiel. Im Nachhinein natürlich ist mir die Absurdität dieses Verhaltens kristallklar. Auch dieser jungen Frau ist es eine Freude, dass sie mir gefällt und offenbar, waren ihre Augen auch mir nicht ganz abgeneigt.

Schnell steckte ich das Retourgeld in mein Portemonnaie und hoffte, sie im Buchladen noch einmal zu sehen. Ja, ich war schnell genug. Da war sie, vor mir. Mit aller Intensität vergegenwärtigte ich mir ihren wunderschönen Körper, ihr stolzes und feminines Kleid, das ihre gleichmässigen Schultern dem Betrachter preisgab. Sie stieg auf die Rolltreppe und ich sah ihr während der ganzen Zeit ins Gesicht, hoffte sie würde sich nach mir umschauen, doch sie blickte in eine andere Richtung. Ich weiss nicht, ob sie die Begegnung mit mir nicht mehr wagen wollte, oder ob sie mich einfach nicht sah. Ich blieb im untern Stock und lief in Richtung des anderen Ausgangs. Als ich soweit an der Rolltreppe vorbeigelaufen bin, dass meine Faszination über diese Frau ganz offensichtlich geworden währe, da ich nun meinen Kopf schon sehr nach hinten bewegen musste. Hätte ihr Blick mich getroffen, hätte sich meine Liebe zu ihr offenbart. Das wagte ich dann doch nicht und schaute weg. Es könne sein, dass im selben Moment ihr Auge sich mir näherte und meine Augen leider abgewendet vorfand. So verlaufen die meisten Begegnungen zwischen fremden. Eigentlich schade. Wieso haben wir nur so viel Angst, vor einander zu offenbaren, dass wir einander gern haben, dass wir einander hübsch und anziehend finden? Es wäre uns ja beiden eine Freude, es würde uns beiden warm ums Herz werden. Zusehr haben wir aber Angst, dass eben der andere nicht hinschauen könnte, dass der andere uns verachten könnte. Wenn das auch von Zeit zu Zeit der Fall wäre, ist es doch sehr schade, dass wir so viele warme und herzliche Momente zwischen uns Menschen ungewagt an uns verbeigehen lassen, uns kalt stellen und vorgeben, wir brauchen keinen anderen Menschen, wir sind an niemandem interessiert, sondern wir sind uns selbst ausreichend, wir sind stark. Welch eine Illusion, welch eine Lüge! Wie sehnen wir uns doch nach diesem warmen Menschlichen, das wir an jedem Tag fast hundertfach erleben können, hundert Gelegenheiten, einen anderen Menschen zum lächeln zu bringen, hundert Möglichkeiten, einem anderen Menschen durch einen ehrlichen Blick mitzuteilen, dass er uns eben angeht, dass wir genau ihn meinen, dass er uns in diesem Augenblick alles bedeutet, dass wir ihn gern haben.

Als ich den Buchladen verlassen habe, schlenderten drei Leute vor mir vorbei. Zwei Asiatinnen und der weisse Freund der einen, die mich ganz lieb ansah, und ich auch sie. Ihr Blick verwandelte sich sogleich in ein Lächeln, das mich sehr bewegte und mein Herz erwärmte, so dass ich nicht anders konnte, als aus tiefem Herzen, dieses Lächeln zu erwiedern. Sie hat es gewagt, sie hat mich für einen Moment sehr glücklich gemacht. Das können wir jedem anderen Menschen geben, der dafür offen ist! Mit einem grossen Glücksgefühl in meinem Bauch lief ich weiter und sah den drei jungen Menschen nach, vor allem der Fee, die mich anlächelte.

Zurück im International House stand ich vor meiner Wohnungstür und hielt den kleinen Bär so, dass meine Freundin durch das Guckloch nur diesen sehen könnte. Sie machte die Tür auf, nahm den kleinen schwarzen Bär an, wollte mich aber zunächst nicht hineinlassen, weil sie immer noch wütend auf mich war.

(verfasst am 24. Juni 2003 in Philadelphia)